Stina

1. Späte Aufklärung über ein Familiengeheimnis

Ich hätte nie gedacht, dass ich im Alter von Mitte Zwanzig erfahre, dass in meinem Leben etwas Grundsätzliches ganz anders ist, als ich es dachte. Und doch saß ich im Sommer 2006 im Alter von 26 Jahren am Esstisch meiner Mutter und hörte sie sagen: „Wir haben Dich durch eine Insemination an der Uniklinik Essen bekommen.“ Mein Vater war wegen einer Hodenkrebserkrankung in seiner Jugend unfruchtbar. Ich fühlte mich, als wäre mein Leben gerade eigentlich eine Folge einer Soap Opera. Ich war sehr verwirrt und auch verletzt, dass sie es mir jetzt erst sagten, wollte aber gleichzeitig meine Gefühle nicht zeigen und erst einmal in Ruhe nachdenken.

2. Eine irgendwie normale Kindheit

Hatte ich etwas davon geahnt? Eher nicht. Ich hätte meine Eltern nicht für Menschen gehalten, die ein Familiengeheimnis haben.

Ich bin 1980 geboren und im Rheinland als Einzelkind aufgewachsen. Wir waren eine kleine, normale Familie. Auch mit einigen Problemen, weil mein Vater eine Zeit lang arbeitslos war und danach eine Stelle in den neuen Bundesländern hatte. Wir hatten uns emotional sehr weit voneinander entfernt, aber ohne größere Auffälligkeiten. Ich fühlte mich manchmal etwas einsam, weil ich keine Geschwister hatte und ich bei Familientreffen fast immer das einzige Kind war.

An eine Sache erinnere ich mich jedoch: Nach einem sehr schlimmen Streit habe ich meine Mutter gefragt, ob er wirklich mein Vater ist, worauf sie ganz entgeistert entgegnete: „Wie kommst Du denn darauf?“ Ich weiß im Nachhinein nicht, ob das eine erste Ahnung war oder nur der Versuch, das damals schlechte Verhältnis zu meinem Vater zu erklären. Meine Mutter kann sich an den Vorfall nicht mehr erinnern.

Es fällt etwas schwer, sich selbst zu charakterisieren, aber dass mir Ehrlichkeit sehr wichtig ist zeigte sich schon im Alter von 13 Jahren an meinem selbstgewählten Konfirmationsspruch: „Lasst uns nicht lieben mit Worten noch mit der Zunge, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit. (1. Joh. 3, 18)“. Ich wollte schnell selbständig werden, habe seit ich 13 Jahre alt bin neben der Schule gearbeitet und bin direkt nach dem Abitur zum Studium ausgezogen.

3. Bin ich jetzt jemand anderes?

Zurück zu diesem Abend im Juli 2006. Ich wollte wissen, wer mein genetischer Vater ist. Meine Eltern konnten mir nur sagen, dass er angeblich Medizinstudent war, Akademiker, intelligent. Meine Mutter erinnerte sich außerdem an einen der behandelnden Ärzte an der Uniklinik Essen mit dem Namen Katzorke.

Ich fühlte mich verletzt, aber wollte meinen Eltern nicht zeigen, wie sehr mich diese Nachricht aufwühlte. Ich ging ins Badezimmer, sah mich lange im Spiegel an und überlegte, was ich wohl von meinem unbekannten genetischen Vater haben könnte: die Nase und den Mund? Aber war ich nicht dieselbe Person wie vorher? Was würde mein genetischer Vater von mir halten, wenn er mich sehen würde?

Ich ging zurück ins Wohnzimmer und wir redeten über etwas anderes, aber ich verabschiedete mich recht bald. Zu diesem Zeitpunkt versuchte ich mir immer noch zu sagen, dass sich durch diese Nachricht eigentlich nichts geändert habe. Aber als ich mit dem Fahrrad nach Hause fuhr, reagierte mein Körper: ich fing an zu zittern und fiel fast vom Fahrrad.

4. Spenderkind, ganz allein

Ich suchte im Internet nach den Begriffen Insemination und Samenspende. Die Ergebnisse schockierten mich:
Seiten von Kinderwunschkliniken und Eltern. Eine Samenspende wurde als wunderbare und problemlose Methode dargestellt, doch noch das ersehnte „eigene“ Kind zu bekommen. Weswegen fühlte ich mich dann so schlecht? Gedanken über die Gefühle der Kinder machte sich anscheinend niemand. Viele empfehlen, die Kinder sollten es am besten nie wissen. Wie kann man so mit seinen eigenen Kindern umgehen? Es gab eine Ausnahme: Ich fand ein Interview mit Petra Thorn, die den Eltern Offenheit empfahl. Weswegen waren meine Eltern nicht darauf gekommen, obwohl das bei Adoptierten doch seit Jahrzehnten bekannt ist?

Gleichzeitig fühlte ich Trauer für meine Eltern, vor allem für meinen Vater. Wie muss es für ihn gewesen sein, zu wissen dass er keine eigenen Kinder bekommen kann? Hat er oft daran gedacht, wenn er mich sah? Und wie muss es für meine Eltern gewesen sein, dieses Geheimnis zu hüten?

An diesem Abend sah ich außerdem ein Foto von dem Arzt, an den sich meine Mutter noch von der Universitätsklinik Essen erinnerte: Dr. Thomas Katzorke, inzwischen Professor und Inhaber einer erfolgreichen privaten Reproduktionspraxis in Essen.

Die ersten Wochen nach der Wahrheit über meine Abstammung litt ich unter einem Schock. Regelmäßig musste ich mich bewusst daran erinnern, dass ich noch der gleiche Mensch wie vorher bin. Ich befand mich zu dem Zeitpunkt ein halbes Jahr vor den Klausuren für das erste juristische Staatsexamen, eine sehr lernintensive Zeit. Ich saß in der Bibliothek und versuchte zu lernen, aber konnte mich nicht konzentrieren, weil sich dieselben Gedanken immer wieder in meinem Kopf wiederholten. Ich fing an, auch juristisch nach dem Thema zu recherchieren und fand eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1989, wonach es ein Recht auf Kenntnis der Abstammung gibt. Anonyme Samenspenden sind also gar nicht zulässig. Wieso schien das nur niemanden zu kümmern?

Ich merkte, dass ich auch Wut gegenüber meinen Eltern zuließ. Ich war traurig wegen der Unfruchtbarkeit meines Vaters, aber gleichzeitig hatten sie Entscheidungen getroffen, wegen denen es mir nicht gut ging. Wieso sollte ich sie jetzt schützen? Musste ich nicht erst einmal auf mich selbst achten, dass es mir wieder gut geht? Ich hatte Angst, mein Examen nicht zu schaffen, zu einem misstrauischen Menschen zu werden. Ich brach den Kontakt zu meinen Eltern für über ein Jahr weitgehend ab.

Nirgendwo fand ich Äußerungen von anderen Menschen, die durch eine Samenspende gezeugt wurden. War da wirklich niemand, mit dem ich meine Gefühle teilen konnte, der mich verstehen würde, der so entstanden ist wie ich?1 Ich erstellte eine Internetseite, um nach anderen zu suchen und meine Gefühle auszudrücken – mit der Hoffnung, zumindest bei einigen Menschen mit einer anderen Perspektive ein Umdenken anstoßen zu können.

5. Vergebliche juristische Schritte

Ich bat sowohl die Uniklinik Essen wie auch Herrn Prof. Katzorke um den Namen meines genetische Vaters. Die Uniklinik Essen schrieb mir, dass die Daten “nach der gesetzlichen Mindestaufbewahrungsfrist von 10 Jahren” vernichtet wurden. Das bedeutete, dass ich mich spätestens im Alter von neun Jahren bei der Uniklinik hätte melden müssen. Und war es nicht ziemlich einfach für die Uniklinik, einfach zu behaupten, die Daten wären nicht mehr vorhanden?

Auch Herr Prof. Katzorke antwortete mir: er wies darauf hin, dass er nur einer der behandelnden Ärzte gewesen sei und sich nach so langer Zeit nicht mehr an die Behandlung meiner Eltern erinnern könne. Das Schreiben stellte den Beginn einer langen „Fernbeziehung“ dar: in den darauffolgenden Jahren würden wir in vielen Medienberichten als Gegenpole auftreten.

Ich wollte mich mit der Antwort der Uniklinik so nicht zufrieden gehen und stellte einen Antrag auf Prozesskostenhilfe für eine Auskunftsklage gegen die Uniklinik. Das Landgericht Essen lehnte den Antrag jedoch ab, weil es keine Erfolgschancen für eine entsprechende Klage sah, weil die Uniklinik Essen die Daten vernichtet habe.2 Auch hiergegen ging ich vor, aber vergeblich.

Ich merkte jedoch, dass die Argumentation darauf beruhte, dass die Daten nicht mehr da waren. Wenn also jemand anders klagen würde, jemand der jünger als ich ist und bei dem die Daten daher noch vorhanden sind, könnte das Ergebnis ganz anders aussehen.

6. Der Zwang zur Rechtfertigung

Ich hatte das Glück, dass alle Freunde und Bekannte, mit denen ich über die Jahre über meine Zeugungsart gesprochen habe, mich weitgehend verstanden. Dass ich als eines der ersten Spenderkinder, das an die Öffentlichkeit getreten ist, diesen Wunsch immer wieder begründen muss, fand ich anstrengend. Eigentlich sollte es doch völlig klar sein, dass man wissen möchte, woher die Hälfte der Erbanlagen kommt. Es ist wissenschaftlich anerkannt, dass Aussehen, Größe und Intelligenz zum Teil auf Vererbung beruhen.

Mir fiel auch auf, wie oft die Frage gestellt wurde, wer denn mein „richtiger“ Vater sei. Wieso muss ich mich da eigentlich entscheiden? Oder ob ich meinen Eltern nicht dankbar sei, dass sie mich auf diese Weise bekommen hätten? Wieso muss man seinen Eltern dankbar sein dafür, dass sie sich ihren Kinderwunsch erfüllt haben? Und wieso wurde bei Eltern völlig fraglos anerkannt, dass sie eine genetische Verbindung zum Kind haben möchten, bei dem Kind wird der Wunsch nach einer solchen Verbindung aber hinterfragt?

Ich wusste aber auch, dass mir schon der Name des Spenders, ein Foto und ein paar Hintergründe zu Bildungsstand, Familie, Beruf und Hobbys reichen würden.

7. Eltern machen Fehler

Neben der Unklarheit über meinen genetischen Vater verletzte mich vor allem, dass meine Eltern mir 26 Jahre lang nicht die Wahrheit gesagt hatten. Ich fühlte mich getäuscht, auch wenn ich wusste, dass keine böse Absicht dahinterstand, sondern vermutlich nur Unwissenheit und vermutlich der Wunsch, eine ganz „normale“ Familie zu sein.

Im Nachhinein fühlte ich mich um eine harmonischere Kindheit betrogen, weil sich meine Eltern nicht klar gemacht hatten, dass besondere Herausforderungen bestehen, wenn sie ein Kind durch eine Samenspende bekommen. Als ich in die Pubertät kam, verstanden mein Vater und ich uns sehr schlecht und er war sehr eifersüchtig auf das wesentlich bessere Verhältnis zwischen meiner Mutter und mir. Sehr oft warf er uns aggressiv vor, dass wir ihn absichtlich ausschließen würden. Ich habe mich damals immer gefragt, warum er so empfindlich ist und sich nicht mehr um ein gutes Verhältnis zu mir bemüht. Mit meinem jetzigen Wissen kann ich das Verhalten meines Vaters wesentlich besser verstehen. Mein Vater war besonders eifersüchtig, weil meine Eltern zu mir nie eine Beziehung von der gleichen Ausgangsbasis her aufbauen konnten. Vermutlich hatte mein Vater immer die geheime Angst, dass die genetische Verwandtschaft doch eine Rolle spielt und ich ihn deswegen nicht auf die gleiche Art annehme wie meine Mutter. Wie schlimm muss es für ihn gewesen sein, als ich ihm einmal im Streit entgegenschleuderte: „Ich wünschte Du wärst nicht mein Vater!“

Es muss ein schlimmes Gefühl sein zu erfahren, dass man mit dem geliebten Partner kein gemeinsames Kind bekommen kann. Aber das rechtfertigt für mich nicht, sich so wenige Gedanken zu machen und zu tun als wäre nichts gewesen. Das Traurige ist, dass es so einfach gewesen wäre: Als meine Mutter mir im Alter von drei Jahren erklärte, wie Kinder entstehen, schätzte ich diesen Akt als so unangenehm ein, dass ich tatsächlich dachte, man bräuchte dafür ärztliche Hilfe im Krankenhaus. Ein seltsamer Zufall, aber er zeigt, dass Kinder auch Sachverhalte annehmen, die sie nicht verstehen. Ich glaube auch nicht, dass ich meinen Vater danach abgelehnt hätte.

Meine Eltern haben sich nach einiger Zeit bei mir entschuldigt und gesagt, dass sie heute alles anders machen würden. Viel bedeutet hat mir, als mein Vater mir sagte, dass er hofft, dass ich den Spender noch finde und dass ich eine Beziehung zu ihm aufbauen kann.

Ich kann auch heute ihr Verhalten nicht rechtfertigen oder wirklich verstehen, aber die Verletzung ist über die Jahre hinweg geheilt. Vielleicht hat mir dabei auch geholfen, dass ich inzwischen selbst Kinder habe und merke, wie schnell Eltern Fehler machen und wie schwierig es manchmal ist, sich von Verhaltensmustern zu lösen, die man selbst als Kind mitbekommen hat. Und letztlich kann man die Vergangenheit nicht ändern – man kann nur versuchen, ihr nicht allzuviel Einfluss auf die Zukunft zu geben. Geholfen hat aber auch, dass ich schließlich herausgefunden habe, wer mein genetischer Vater ist (siehe 9).

8. Ich werde zur Aktivistin

Von Anfang an hatte ich das Gefühl, dass ich durch meine eigenen Erfahrungen eine Verantwortung trage zu verhindern, dass Ärzte und Eltern weiterhin die Rechte der mit Samenspende gezeugten Menschen missachten. Über die von mir im Jahr 2006 erstellte Internetseite haben sich viele andere Spenderkinder gemeldet, und im Jahr 2009 gründeten wir dann zusammen den Verein Spenderkinder.

Der Kontakt zu anderen Spenderkindern hat mir sehr weitergeholfen – ich fühlte mich nicht mehr alleine. Mein erstes Treffen mit einem anderen Spenderkind werde ich nicht vergessen. Und ich finde auch nach 13 Jahren immer noch faszinierend, wie viele Gemeinsamkeiten es bei allen Unterschieden zwischen uns gibt. Über den Verein habe ich viele wunderbare Menschen kennengelernt, und viele Mitglieder sehe ich als meine Freunde an. Auch der Kontakt zu Eltern von Spenderkindern, die offen mit diesem Thema umgehen, war sehr bereichernd für mich.

Zusammen haben wir viel bewegt: Unvergesslich war für mich vor allem Sarahs Auskunftsverfahren gegen Herrn Prof. Katzorke, das ich über drei Jahre lang auch rechtlich begleitet habe. Im Gerichtssaal saß ich dann das erste Mal dem Mann gegenüber, der meine Mutter behandelt hatte und der über viele Jahre lang öffentlich vertreten hatte, dass unser Wunsch nach Kenntnis unseres genetischen Vaters nicht ernst genommen werden könne. Im Februar 2013 gab das Oberlandesgericht Hamm Sarah Recht. Obwohl es rechtlich nicht überraschend war, handelte es sich doch um das erste Urteil dieser Art und einen Meilenstein für uns und unsere Rechte. In dem Moment wusste ich, dass sich die ganze Arbeit der letzten Jahre gelohnt hatte.

Ein weiterer Meilenstein war, dass es ab dem Jahr 2012 DNA Tests gab, mit denen wir herausfinden konnten, ob wir untereinander verwandt sind und mit denen man auch weiter entfernte Verwandte identifizieren kann. Wir wählten für unseren Verein den Test Family Finder und auch ich registrierte mich dort, hatte aber nur sehr entfernte Treffer. Nachdem die ersten unmittelbaren Treffer ein Jahr auf sich warten ließen, wurden es in den letzten Jahren immer mehr. Es ist immer wieder eine schöne Erfahrung, das Glück und die Aufregung bei solchen Verwandtentreffern mitzuerleben.

Ich habe mit der Zeit immer mehr Menschen von meiner Zeugungsart erzählt, erst Freunden, dann auch Bekannten und zuletzt auch Arbeitskollegen. Dass der Öffnungsprozess so langsam vor sich ging, hat viel mit meiner späten Aufklärung zu tun – Eltern geben damit an uns weiter, dass wir uns eigentlich für diese Form der Familiengründung schämen müssen, und das muss man erst einmal überwinden. Negative Reaktionen gab es übrigens nie.

Mit der Zeit wurde meine Entstehung durch eine Samenspende ein normaler Teil meiner Geschichte, über den ich manchmal mehr, manchmal weniger nachgedacht habe. Sehr relevant wurde es aber wieder für mich, als ich selbst Mutter geworden bin. Ich habe mein Kind von Anfang an als so eigenständiges Wesen wahrgenommen, dass ich noch viel weniger nachvollziehen konnte, dass Eltern sich mit einer Lüge belasten. Zudem wurde ich in der Schwangerschaft oft an den mir damals unbekannten genetischen Vater erinnert, weil bei vielen Untersuchungen nach Vorerkankungen in der Familie gefragt wird. Nach der Geburt meines Kindes fiel mir auf, wie viele Menschen die Ähnlichkeit zu den Eltern und Großeltern kommentierten. Außerdem musste ich mir überlegen, wie ich meinem Kind von dem unbekannten genetischen Großvater erzähle – ich habe es dann durch ein Fragezeichen im Stammbaum des Babyalbums gemacht.

9. Eine überraschende Wendung: ich finde die Nadel im Heuhaufen

Im Jahr 2018 hatte ich mich über zwölf Jahre nach meiner Aufklärung fast nicht mehr damit gerechnet, herauszufinden wer mein genetischer Vater ist. Alles in allem ging es mir zu diesem Zeitpunkt ziemlich gut, obwohl mein sozialer Vater im Jahr zuvor gestorben war und ich ihn sehr vermisste. Da viele amerikanische Spenderkinder empfahlen, alle DNA-Datenbanken zu nutzen, registrierte ich mich im Januar 2018 auch in den DNA-Datenbanken Ancestry und 23andme. Ich erwartete eigentlich keine Treffer, weil dort vor allem US-Amerikaner registriert sind, wollte aber nichts unversucht gelassen haben. An dem Tag, als meine Ancestry-Resultate eintrafen, fiel es mir erst kurz vor dem Schlafengehen wieder ein. Zu meiner großen Überraschung hatte ich einen Treffer, der ein Cousin zweiten oder dritten Grades sein sollte und bei dem Ancestry angab, dass er mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit tatsächlich mit mir verwandt ist.

Der Name sagte mir nichts und ich gab ihn bei Google ein. Ich fand einen Nachruf auf den Vater meines mutmaßlichen Cousins zweiten Grades im Internet: er war aus Deutschland nach Kanada ausgewandert. In den Namen der Hinterbliebenen stach ein Name heraus: „Tomas Katzorke“ from Germany. Das ließ eigentlich nur einen Schluss zu: der behandelnde Arzt meiner Mutter ist mein genetischer Vater. Die Identifizierung meines genetischen Vaters dauerte nach fast zwölf Jahren der Ungewissheit nur zwei Minuten. Ich hatte das zweite Mal in meinem Leben das Gefühl, mich in einer Soap Opera zu befinden. Ich wusste, dass es in einigen anderen Ländern Fälle gegeben hatte, in denen der Arzt auch selbst „gespendet“ hatte. Auch ich hatte zusammen mit anderen Spenderkindern immer mal wieder überlegt, ob das auch in Deutschland vorgekommen sein könnte und wir hatten Witze darüber gemacht, dass vielleicht auch Prof. Katzorke selbst davon betroffen war, weil er die Anonymität seiner Spender so vehement verteidigte. Aber eigentlich hatte ich ihn dazu für zu professionell gehalten.

In diesem Moment fand ich meine Entdeckung einfach nur absurd: immerhin war dies der Mann, dessen Foto ich an dem Abend meiner Aufklärung über meine Entstehungsweise vor über zwölf Jahren auf meinem Bildschirm gesehen hatte. Der mir geschrieben hatte, dass er sich nicht mehr an die Behandlung meiner Mutter erinnere, und der mir anfangs untersagen wollte, seinen Namen als einer der behandelnden Ärzte meiner Mutter auf unserer Internetseite zu nennen. Und den ich im Jahr 2014 selbst vergeblich auf Auskunft über die Samenspender der Universitätsklinik Essen verklagt hatte, an die er sich einem Interview zufolge erinnerte. Seinen eigenen Namen hätte er mir wohl niemals gesagt. Gleichzeitig wurde mir klar, dass auch mein Vorgehen gegen die Uniklinik Essen nie Aussicht auf Erfolg gehabt hatte: der Name meines wirklichen genetischen Vaters hätte wohl nicht in der Akte gestanden. Wahrscheinlich hat auch er nicht damit gerechnet, dass er fast 39 Jahre später mit einem DNA-Test über seinen Cousin identifiziert werden würde.

Noch etwas skuriler wurde es, als ich auch meine Ergebnisse bei 23andme erhielt. Dort wurde mir ein „TK“ als Vater angezeigt. Damit hatte ich schwarz auf weiß, dass wir 49,8 Prozent unserer Gene teilen. Aber wieso hatte er sich bei einer DNA-Datenbank registriert?

Wenn ich mir früher vorstellte, irgendwann den Namen meines genetischen Vaters zu erfahren, dachte ich, erst einen Brief zu schreiben, in dem ich mich vorstelle und erkläre, worum es mir geht. Prof. Katzorke und ich „kannten“ uns aber bereits und hatten uns sogar schon persönlich getroffen – davon zwei Mal vor Gericht. Aus zahlreichen Interviews wusste ich außerdem, dass Prof. Katzorke genetischer Verwandtschaft keine Bedeutung zumisst. Trotzdem wollte ich, dass er weiß, dass ich es herausgefunden habe. Wir hatten in der Folge einen kurzen Austausch, in dem er mir schilderte, dass er „zwei bis drei Mal eingesprungen“ sei, wenn ein Samenspender nicht zum Termin erscheinen sei. Er gab mir außerdem ein paar Informationen über seine eigenen Eltern und Großeltern. Ein wirklich offener und unbefangener Kontakt war mit unserer Vorgeschichte und den konträren Interessen aber nicht möglich.

Ich entschied mich schließlich, meine Geschichte öffentlich zu machen, weil sie zeigt, dass Reproduktionsmediziner keine neutrale vermittelnde Stellung inne haben und auch niemals inne hatten, sondern selbstverständlich auch von eigenen Interessen geleitet handeln. Am 14. Februar 2019 erschien meine Geschichte im Dossier der Zeit mit dem Titel „Tief in den Genen“, erzählt von dem wunderbaren Journalisten Henning Sußebach. Am Tag danach war Herr Prof. Katzorke im Internet nicht mehr als Vorsitzender des Arbeitskreises Donogene Insemination aufgeführt, angeblich sei er bereits drei Monate zuvor zurückgetreten.

Sicherlich hätte ich mich gefreut, einen offenen und sympathischen genetischen Vater zu haben, mit dem ich mir ab und zu mal eine Nachricht schreibe – so wie ich mich über jeden neuen offenen und sympathischen Menschen in meinem Leben freue. Aber ich bin nicht wütend auf meinen genetischen Vater oder enttäuscht, dass wir keinen Kontakt haben. Seit ich ihn vor zwölf Jahren „kennen“ gelernt habe, bin ich nicht einverstanden damit, dass er Spenderkindern ihr Recht auf Kenntnis ihrer Abstammung abspricht und die Anonymität und Privatsphäre der Spender verteidigt. Dass er sich ohne Wissen der betroffenen Patientin selbst als Spender eingesetzt hat und es jetzt als Handlung in der ungeregelten Pionierzeit verteidigt, passt dazu. Aber auch wenn mir die Person meines genetischen Vaters nicht sonderlich gefällt, bin ich einfach nur froh, dass meine Abstammung keine Leerstelle mehr ist, sondern dass ich den Namen und das Gesicht meines genetischen Vaters kenne und eine Ahnung habe, woher manche meiner Wesenszüge kommen könnten. Ich hoffe, dass meine Geschichte vermitteln kann, dass es sich lohnt, sich für etwas einzusetzen – und dass man nie aufgeben sollte.

  1. Im Nachhinein verstehe ich nicht, warum ich nicht auch international gesucht habe. []
  2. Das OLG Hamm hat solche pauschalen Argumente im Februar 2013 übrigens nicht einfach mehr akzeptiert, aber das war leider erst sieben Jahre später. []