Thorsten

Geboren 1978, bin ich 43 Jahre alt. Ich bin verheiratet und habe drei Kinder. Im Jahr 2021 habe ich herausbekommen, dass ich nicht, wie bislang gedacht, das biologische Kind meines Vaters bin. Ich bin ein sogenanntes „Spenderkind“, eins von ca. 100.000 in Deutschland. Wie meine Mutter mir endlich bestätigte, hatte sie sich im Sommer 1977 künstlich, mit Hilfe einer anonymen Samenspende, befruchten lassen, da man davon ausging, dass mein Vater unfruchtbar sei. Später stellte sich jedoch heraus, dass er doch zeugungsfähig war. Ich bekam einen Bruder, der, wie ich nun weiß, mein Halbbruder ist. Meine Eltern hätten das Geheimnis, bzw. die Lebenslüge bezüglich meiner Herkunft mit ins Grab genommen.

Seit ich denken kann, hatte ich große Schwierigkeiten mit meinen Eltern, insbesondere mit meinem Vater. Ich hatte immer das Gefühl, dass etwas nicht stimmen konnte, ich empfand ihn mir gegenüber als kalt und fremd, mir fehlte die Verbundenheit, seine Unterstützung und sein Interesse. Ich fühlte mich oft zerissen, als Fremdkörper in der Familie und innerlich unruhig, ohne dies genau einordnen zu können. Ich empfand mich gegenüber meinem Bruder benachteiligt und fragte meine Mutter häufig, ob es sein könne, dass ich nach der Geburt verwechselt worden wäre oder sie fremdgegangen sei. An meinen Vater apellierte ich häufig, dass er mich doch bitte meinem Bruder gleich behandeln solle, eben wie ein Vater. Aus heutiger Sicht war dies natürlich zum Scheitern verurteilt, weil der Bruder ihm im Wesen ähnlich war und, ohne dass er es wusste, dem Vater die Männlichkeit zurückgegeben hatte. Kinder lieben ihre Väter, auch ich habe, trotz aller Defizite in unserer Beziehung, meinen vermeintlichen Vater geliebt, seine Anerkennung gesucht und mir familiären Zusammenhalt sowie Loyalität gewünscht. Optisch passten wir auch nie wirklich zusammen, was man mir stets damit erklärte, dass ich eben nach der Familie meiner Mutter käme.

Im Nachhinein betrachtet, macht jetzt alles Sinn. Ich weiß heute, dass ich mir mein Leben lang nichts zurechtfantasiert hatte (wie mir suggeriert wurde), sondern, dass ich mit dem diffusen Gefühl, dass etwas nicht stimmen konnte, recht hatte. Dank eines DNA-Tests bei einer DNA-Datenbank (My Heritage), den ich ohne Hintergedanken gemacht hatte, habe ich einen Halbbruder gefunden, der mir von meiner Mutter nicht erklärt werden konnte. Ich kam der Wahrheit immer näher, bis meine Mutter schließlich die Wahrheit über meine Herkunft herausließ. Ich fühle mich emotional missbraucht, manipuliert und meiner Identität beraubt. Man ist einer solchen Situation erschüttert bis ins Mark und in seinem Urvertrauen.

Dem ganzen Prozedere der anonymen Samenspende in den 1970er Jahren, in denen diese zunehmend salonfähiger wurde, stehe ich, aus moralischen Gesichtspunkten, höchst kritisch gegenüber

Die seelische Verletzung der künstlich gezeugten Kinder war vorprogrammiert:

  • Ein „Spender“, der für 100 D-Mark pro „Spende“, über Jahre hinweg unzählige Kinder zeugen durfte, voraussichtlich ohne ein jegliches Interesse an ihnen zu haben.
  • Eltern, die ihren unbedingten Kinderwunsch in egoistischer Weise durchsetzen wollen, basierend auf einer proaktiven Lebenslüge und somit auf dem Rücken der Kiderseelen. Das Schweigegelübde aller beteiligten Personen einer Inseminierung war damals Grundvoraussetzung, die nicht zur Diskussion stand. (Heute weiß man, dass Transparenz wichtig ist für ein gesundes Leben der Spenderkinder.)
  • Ärzte, die lediglich anhand des Standes, der Haar- und der Augenfarbe potenzielle „Spender“ bestimmten, unter dem Argument, den Kinderlosen einen Gefallen tun zu wollen.
  • Über den Gesundheitszustand der „Spender“ vermerkte man lediglich „gesunder junger Mann“, ohne natürlich eine Auskunft über dessen genetische Disposition und damit einhergehende mögliche Erbkrankheiten treffen zu können. Eine richtige medizinische Anamnese fand damals nicht statt.
  • Das heranwachsende Baby, als wichtigstes Puzzlestück, vergaß man bei den Rahmenbedingungen für diese Art der Zeugung nahezu komplett.

Zu den Umständen meiner Zeugung – Suche nach meinem biologischen Vater

Ich hatte einen Großonkel mütterlicherseits, der Mediziner war. Er hatte einen guten Freund, welcher niedergelassener Gynäkologe in Giessen war. Dessen Name war Dr. med. Heinrich Müller, er praktizierte in Gießen. Dr. Müller nahm 1977 die Insemination bei meiner Mutter in seiner Praxis vor, die, wenn mich nicht alles täuscht, in der Löberstraße gelegen haben muß. Er ist bereits in den 80ern verstorben. Ende der 70er war es der Hautarzt Dr. med Renfer, der die „Spender“ organisierte. Dieser praktizierte in Gießen, Südanlage 16, dort wo heute noch eine Hautarztpraxis ist, gegenüber der Johanneskirche. Auch er ist mittlerweile verstorben. Mit dem Gießener Uniklinikum hatten beiden offensichtlich nichts zu tun. Ich kenne eine Person, die unter Dr. Renfer noch gearbeitet hatte, die allerdings auch nicht mehr an alte Daten heran kam… vermutlich gibt es diese einfach nicht mehr.

Dr. Renfer hat damals wohl Briefumschläge an Dr. Müller gegeben, in denen die „Spenden“ enthalten waren. Auf den Umschlägen standen nur die Nachnamen der jeweiligen „Spender“ und die Umschläge wurde dann, nach Erhalt, in der gynäkologischen Praxis vernichtet. Es war offensichtlich auch üblich, gelegentlich bis zu 10 „Spender“-spermien in einer Dosis im Umschlag zu vereinen. So dass letztlich auch die Ärzte nicht wussten, wer der biologische Vater war. In meinem Fall war es allerdings offensichtlich so, dass man anhand des Standes, der Augen und der Haarfarbe einen Mann ausgesucht hatte. Ich gehe also davon aus, dass mein biologischer Vater damals Student war und er dunkle Augen und Haare hatte. Man hat damals ein allgemeines Schweigegelübde unter allen Beteiligten eingefordert. Man sollte auf gar keinen Fall dem (heranwachsenden) Kind etwas sagen, dies würde nur unnötige Schwierigkeiten beim Zögling und somit den Eltern hervorrufen.

Ich glaube mir bleiben leider wirklich nur die Genatenbanken (wie My Heritage oder Ancestry), um meinem biologischen Vater und möglichen Halbgeschwistern näher, bzw. auf die Spur zu kommen. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass sich weitere Verwandte dort anmelden und ihre DNA-Probe abgeben. Einige entfernte Verwandte habe ich bereits gefunden, die mir jedoch bislang nicht weiterhelfen konnten. Leider gibt es erst seit Juli 2018 für Spenderkinder die Möglichkeit, auf ein zentrales Spenderregister zu zugreifen. Die Auskunft über die Abstammung und somit das grundrechtlich geschützte Persönlichkeitsrecht eines Menschen, seine genetische Herkunft zu kennen (Urteil des Bundesverfassungsgerichts, bereits 1989) ist endlich erreichbarer.

Für Spenderkinder, wie mich, die Ende der 1970er Jahre geboren wurden, gibt es allerdings kaum eine Möglichkeit, den „Spender“ zu finden. Die damaligen Unterlagen, insofern es sie überhaupt gab, sind längst vernichtet. Ich schaue in den Spiegel und sehe das Fremde, eine Hälfte meiner Lebenswirklichkeit ist erloschen, bzw. blind. Mir ist es sehr wichtig, etwas über meine Wurzeln zu erfahren. Ich will wissen, wo mein biologischer Vater herkommt, wenn er überhaupt noch lebt. Er müsste heute schätzungsweise Anfang 60 bis Anfang 70 Jahre alt sein. Wo kommen meine Vorfahren her, wie heißen sie? Ich verspüre eine Unruhe in mir, die erst zur Ruhe kommen kann, wenn ich Antworten gefunden habe. Dabei habe ich keine romantischen Vorstellungen, hoffe nicht auf eine echte Vater-Sohn-Beziehung und habe auch keinerlei finanzielle Interessen. Finanzielle Ansprüche hätte ich, per Gesetz, ohnehin nicht. Ich habe einzig den bescheidenen Wunsch, zu wissen wer ich bin. Selten gibt es auch ehemalige Spender, die ihre Kinder suchen, ihnen Antworten geben und damit die Chance auf ein wenig Heilung.