Anja

Ich war ein eher ruhiges, unaufdringliches und dennoch fröhliches Kind. Egal ob Lehrer, Außenseiter oder „cooler Typ“ – ich verstand mich eigentlich mit allen gut und wurde gemeinhin als freundliches, schlaues und süßes Mädchen angesehen (Letzteres vermutlich, weil ich immer schon eher klein war…). Ich liebte es Musik zu machen, spielte leidenschaftlich Klavier und Saxophon, war gerne kreativ, kletterte auf Bäume und fuhr mit meinen Freundinnen und Freunden auf dem Roller oder Einrad durch die Straßen. Häufig hörte ich, ich würde strahlen, wenn ich lache. Und ja, wenn ich mich für etwas begeisterte, konnte ich damit viele Menschen anstecken. Aber es gab auch eine ausgeprägte sensible Seite an mir, die ich nur selten zeigte. Eine perfektionistische Seite mit großer Angst Fehler zu machen. Ich grübelte viel und zweifelte oft an mir.

Als sich bei mir die Pubertät anbahnte, so mit 10 oder 11 Jahren, nahmen diese Tendenzen zu. Und noch ein seltsames Gefühl kam hinzu, das vor allem auf meinen Papa bezogen war. Ein Gefühl von: hier stimmt etwas nicht. Ich selbst kam rational nicht dahinter. Von außen betrachtet war ja alles in Ordnung. Meine Eltern sorgten für mich, ermöglichten mir ein gutes Leben. Aber irgendetwas fehlte… und irgendetwas war komisch. Mein Papa wurde komisch… distanzierter und abweisender… Zwar bemüht um gute Laune, aber nicht glaubhaft dabei… ich verstand es nicht. Habe es auf seinen Beruf bezogen, der sehr viel von ihm abverlangte. Aber was wirklich los war, sagte mir keiner.

In dieser Zeit entwickelte sich die Phantasie, dass mein Papa vielleicht gar nicht mein richtiger Vater sein könnte. Es war wirklich nur eine Phantasie, vielleicht auch so eine Art Wunschvorstellung, weil unser Verhältnis so belastet war. In ausgedachten Geschichten habe ich mir einen anderen Vater im Ausland vorgestellt, weit weg. Habe auch meine Eltern direkt gefragt, ob ich nicht adoptiert wurde oder ob meine Mutter einen Seitensprung hatte. Ich hatte die Absicht, sie mit solchen Aussagen zu provozieren. Wirklich geglaubt, habe ich daran nicht. Aber der Gedanke ließ mich auch nicht los.

Der Tag der Wahrheit

Mit 22 Jahren sollte ich endlich erfahren, was es mit diesem Gefühl auf sich hatte. Es war im September 2012. Ich war inzwischen längst ausgezogen, studierte an einer Universität in Thüringen, und verbrachte ein paar Tage meiner Semesterferien bei meinen Eltern.

Ich saß im Wohnzimmer, als mein Papa auf mich zu kam und mich bat, mich mit ihm und meiner Mutter an den Tisch zu setzen; sie müssten etwas Wichtiges mit mir besprechen. Ich hatte keine Ahnung. Ist vielleicht meine Oma verstorben? Nein, ich sei durch eine Samenspende entstanden.

Im ersten Moment musste ich lachen, wahrscheinlich weil ich das gar nicht richtig glauben konnte, fand es auch ein bisschen cool, dass meine Eltern damals eine so außergewöhnliche Methode für die Erfüllung ihres Kinderwunsches gewählt hatten und war irgendwie fasziniert davon, nun in eine Situation geraten zu sein, die ich vorher nur aus dem Fernsehen kannte. Es war, als würde ich mich von außen beobachten und dabei reflektieren. Ich war überrascht, nicht das zu fühlen, was ich in einer solchen Situation erwartet und als angemessen erachtet hätte: ich war weder wütend auf meine Eltern noch traurig oder enttäuscht darüber, dass sie mir erst so spät davon erzählt haben. Im Gegenteil, es war eher eine Bestätigung, dass die Gefühle, die ich in all den Jahren angesammelt hatte, berechtigt waren. So komisch sich das anhört, aber mir fiel wirklich ein Stein vom Herzen. Die Nachricht, dass ich durch eine Samenspende entstanden bin und tatsächlich einen anderen biologischen Vater habe, hat mich dahingehend unglaublich entlastet und mich gleichzeitig meinen Eltern irgendwie wieder nähergebracht. Ich wusste, dass sich unser Verhältnis nun endlich verbessern könnte.

Aber ganz so einfach war es dann doch nicht. Noch am selben Abend zeigte mir mein Körper, wie gravierend diese Informationen doch für mich waren. Ich bekam Fieber und heftige Kopfschmerzen. Und schließlich kam auch Traurigkeit hoch, viele Tränen sind geflossen. Irgendwie war mit einem Male meine ganze Identität in Frage gestellt. Ich sah mir Kinderfotos an und konnte mich darauf in der ersten Zeit gar nicht mehr wieder erkennen. Die blonden Haare habe ich früher immer eindeutig meinem Papa zugeordnet. Nun stammten sie von einem fremden Mann, den ich nicht mal beim Namen nennen konnte. Was hat er mir noch vererbt außer den blonden Haaren? Irgendwelche Krankheiten? Plötzlich lag auch eine Erklärung dafür nahe, dass ich mit meinen 1,60 m die Kleinste in der ganzen Familie bin.

Die Frage, was für ein Mensch dieser Spender wohl sein muss, stellte sich mir sofort. Ein Medizinstudent, sagten meine Eltern. Und er solle meinem Papa ähnlich sehen. Habe ich sogar noch Geschwister? Vielleicht! Meine Eltern versuchten mir diese Fragen so gut es ging zu beantworten. Mein Papa rief sogar noch am selben Tag den Arzt an und fragte ihn für mich, ob er mir Auskunft über meinen Spender erteilen könnte. Doch er hätte angeblich keine Unterlagen mehr. Nun ja… So habe ich erstmal akzeptiert, dass mein biologischer Vater anonym ist. Er blieb eine Silhouette ohne Gesicht und daran konnte ich nichts ändern… Ich musste wohl auch erstmal mit mir selbst klar kommen und die Nachricht richtig realisieren.

Das Urteil des OLG Hamm

Kurz nachdem mich meine Eltern eingeweiht haben, bin ich für mehrere Monate für ein Praktikum nach Spanien gegangen. Dort hatte ich die Gelegenheit, die ganze Geschichte einigermaßen zu verdauen und mich auch davon abzulenken. Irgendwann Anfang 2013 überraschte mich jedoch eine Push-Nachricht auf meinem Handy, wie ich sie häufig von verschiedenen News-Seiten bekam: irgendwas von Kindern aus Samenspenden, stand da, die nun wissen dürfen, wer ihr anonymer Samenspender ist. Gemeint war das Urteil des OLG Hamm. Spenderkind Sarah P. hatte erfolgreich ihren Auskunftsanspruch gegen den Reproduktionsmediziner Prof. Dr. Katzorke durchgesetzt. Ich war wie paralysiert. Plötzlich waren da noch andere Menschen, wie ich. Und die beschäftigte offenbar der Gedanke, nicht zu wissen woher sie kommen.

Und mit einem Schlag waren auch die Medien voll mit dem Thema. Ich weiß noch, wie ich noch am selben Tag meiner Aufklärung im Internet nach Samenspenden gegooglet habe und lediglich auf Webseiten von Reproduktionsmedizinern oder Kinderwunsch-Foren, in denen sich Eltern austauschten, gestoßen bin. Über die Kinder, die aus Samenspenden entstehen oder entstanden sind, wurde kein einziges Wort verloren. Doch mit dem Urteil des OLG-Hamm standen sie plötzlich im Mittelpunkt. Dies war ein wirkliches Schlüsselereignis für mich. Plötzlich gab es einen Funken Hoffnung, vielleicht doch zu erfahren, wer mein biologischer Vater ist.

Die Suche beginnt… Emails an den Arzt

Angestoßen durch das Urteil des OLG Hamm habe ich mich entschieden, doch aktiv nach meinem Spender zu forschen. Es lag nahe, hierfür zunächst noch einmal den Münchner Reproduktionsmediziner zu kontaktieren. Ich wusste ja nun, dass ich mich durch ein einfaches „nein“ nicht mehr abspeisen lassen müsse, sondern wie alle Spenderkinder sogar ein Recht auf Kenntnis der Abstammung habe. Ich schätze mich sehr glücklich, dass mich meine Eltern dahingehend unterstützt und bestärkt haben.

Also entschied ich mich, dem Arzt eine Email zu schreiben. Das war schon ein besonderer Moment für mich. Schließlich schrieb ich hier einem Menschen, der einen ganz entscheidenden Einfluss auf meine Existenz hatte. Wenn man es genau nimmt, dann ist er ja eigentlich der „Erzeuger“, derjenige, der im wahrsten Sinne des Wortes „das Leben in die Hand genommen hat“. Dafür wollte ich ihm – neben meiner Bitte nach Auskunft – auch irgendwie danken. Ich war und bin froh, dass ich am Leben bin. Außerdem interessierte es mich, wie viele Halbgeschwister ich wohl habe.

Die Antworten des Arztes waren jedoch ernüchternd. Er schrieb, dass er damals den Spendernamen angeblich noch anonymisieren durfte und die Unterlagen mittlerweile auch schon vernichtet habe, sodass er mir beim besten Willen nicht weiterhelfen könnte. Mein biologischer Vater sei jedoch auf jeden Fall ein Student gewesen. Im Hinblick auf potentielle Halbgeschwister konnte er mir nur sagen, dass er die Spender nach 15-20 gezeugten Schwangerschaften ausgesondert hatte, wenn sie ihre Arbeit nicht schon zuvor selbstständig beendet hatten. Von meinen Nachfragen hielt er grundsätzlich überhaupt nichts.

Seiner Meinung nach wäre es ohnehin das beste, wenn Eltern ihre Kinder nicht darüber aufklärten. Sonst entstünden solche Nöte, wie ich sie jetzt habe.

Diese Aussagen haben mich wirklich verärgert. Nicht nur, dass er mir die Auskunft nicht erteilen wollte oder angeblich nicht konnte, sondern auch seine Einstellung zu diesem Thema. Meine Not war ja nicht, dass ich durch eine Samenspende entstanden bin, sondern nicht zu wissen, wer mein biologischer Vater ist. Und für diese Not war ER verantwortlich, indem er sich so weigerte – nicht meine Eltern. Er war es, der sich nicht an die Dokumentationspflichten hielt und die Eltern zu einem Geheimnis drängte, um selbst ein gutes Geschäft zu führen. Dass solch ein Geheimnis das Verhältnis zwischen Eltern und Kind auf extrem wackelige Beine stellt, schien ihm überhaupt nicht bewusst gewesen zu sein. Ich wollte das so nicht auf mir sitzen lassen.

Der Spenderkinder-Verein

Ich habe mir wahrlich den Kopf darüber zerbrochen, wie man denn ohne den Reproduktionsmediziner den Spender finden könnte. Ich dachte dabei v.a. an die Sozialen Medien. Es muss doch im Internet irgendeine Anlaufstelle geben, wo sich sowohl Spenderkinder als auch Spender zusammenfinden könnten, wenn beide es wünschen. Ich suchte u.a. auf Facebook und stieß dabei auf die Seite des Vereins Spenderkinder und entschied mich, einfach mal unverbindlich Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Es entstand ein intensiver Kontakt mit Stina, die mir als Juristin viele wichtige Hinweise geben konnte. Sie bot mir ein Suchprofil auf der Spenderkinder-Seite an sowie die Aufnahme in die Mailing-Liste des Vereins. Außerdem ermunterte sie mich dazu, den DNA-Test von Family Tree DNA zu machen (heute wäre Ancestry die erste Wahl). Darüber habe es schon Treffer zwischen Spenderkindern und Spendern bzw. zwischen Halbgeschwistern gegeben.

Ich nahm das alles dankend an. Es hat mir wirklich unglaublich geholfen, mich mit ihr und anderen Spenderkindern austauschen zu können. Ich erfuhr dadurch, dass meine Gefühle gar nicht mal so einzigartig waren, sondern dass es vielen anderen Spendenkindern ähnlich erging. Falls hier vielleicht Spenderkinder mitlesen, kann ich nur empfehlen, diese Angebote ebenfalls zu nutzen.

Durch die Hilfe des Spenderkinder-Vereins erfuhr ich, dass die seltsamen Argumente des Arztes (Anonymisierung und Vernichtung der Unterlagen) auch von vielen anderen Reproduktionsmedizinern verwendet wurden und äußerst zweifelhaft waren. Insbesondere die rechtliche Grundlage, auf die sich die Mediziner beziehen, stimmte nicht, wie nun auch das OLG Hamm bestätigte. Jedes Spenderkind und jeder Mensch hat ein Recht darauf zu wissen, wo er herkommt, weswegen Samenspenden niemals anonym hätten erfolgen dürfen. Auch die Unterlagen durften die Ärzte nicht ohne weiteres vernichten.

Letztlich kam ich zu dem Schluss, dass es wohl doch nicht anders geht, als den Arzt nochmal deutlicher dazu aufzufordern, mir Auskunft über meinen Spender zu erteilen. So nahm es seinen Lauf…

Gerichtsverfahren 1: Daten wurden angeblich vernichtet bzw. an Spender zurückgegeben

Nachdem ich mit freundlichen Emails nicht weiterkam, entschied ich mich, es mit einem Anwalt zu probieren. Zusammen überlegten wir uns einige Möglichkeiten, die dieses Dilemma „Spenderanonymität vs. Auskunftsanspruch“ irgendwie lösen könnten. Ich wollte den Arzt ja nicht an den Pranger stellen, sondern einfach nur, dass er mir hilft meinen genetischen Vater zu finden.

Mein Vorschlag war zum Beispiel, dass er meinen genetischen Vater kontaktiert, und einen Brief von mir weiterleitet. So wäre seine Anonymität weiterhin gewahrt und er kann selbst entscheiden, ob er antworten möchte oder nicht. Darauf ging der Arzt leider nicht ein. Also war der nächste Schritt die Klage vor dem Landgericht München.

Ich hätte mir nicht ausmalen können, wie anstrengend und langwierig so ein Gerichtsprozess sein kann. Wir rannten ständig gegen Wände. Der Arzt beteuerte sich an nichts mehr erinnern zu können. Für alles hatte er eine Ausrede. 

Im November 2014 fand schließlich die Verhandlung statt, wo ich den Arzt dann auch das erste Mal persönlich traf. Er kam auf mich zu, meinte, er sei stolz mich zu sehen, wünscht mir ein gutes Leben und viele eigene Kinder – doch die gewünschte Auskunft könne er mir zu seinem größtem Bedauern leider nicht geben. Seine Begründung: Die Patientinnendaten seien allesamt vernichtet und die Spenderdaten habe er den Spendern nach Abschluss ihrer Tätigkeit zurückgegeben, damit sie sicher sein konnten, dass sich die Kinder auch niemals bei ihnen melden oder gar Unterhalt einfordern könnten. Tja. Obwohl mir das Auskunftsrecht zweifelsfrei zustand, hatte ich also Pech. Denn wo keine Unterlagen mehr sind, kann man auch keine Auskunft mehr geben…

Seine Ausführungen haben mich unglaublich getroffen und fassungslos gemacht. Wie kann man die Bedürfnisse und Rechte der sogenannten „Wunschkinder“- um die es ja schließlich bei diesem ganzen Prozedere geht – nur so stringent ausblenden? Er empfand es als Entgegenkommen seinerseits, dass ich – wenn schon nicht dem Spender – zumindest ihm gegenübertreten und in die Augen schauen durfte. Ich könnte ihn ja wie eine Art „Onkel“ sehen. Denn er habe ja auch einen entscheidenden Beitrag zu meiner Existenz geleistet…

Da er keinen einzigen Beweis lieferte und auch die damaligen Mitarbeiter nicht befragt werden konnten, weil er sich angeblich nicht mehr an sie erinnert, war ich nicht sicher, wie glaubhaft das wirklich ist. Dennoch musste ich es erstmal akzeptieren, da von ihm kein Entgegenkommen zu erwarten war. So endete das Verfahren in einem Vergleich. Sein Bedauern erlebte ich als nicht ehrlich gemeinte Floskel…

Ich war sehr traurig darüber, nicht mal einen kleinen Hinweis über meinen Spender erfahren zu haben, musste mich aber damit abfinden… Eine kleine Hoffnung gab es noch. Ein Fernsehteam vom WDR dokumentierte meine Suche. Vielleicht sieht mein Spender ja die Doku und meldet sich von selbst bei mir?

Kommissar Zufall: Vater gefunden?

Spätestens nach Ausstrahlung der Fernsehdokumentation Anfang 2015 hatte ich das Gefühl, alle Potenziale ausgeschöpft zu haben. Über den Arzt ließ sich nichts weiter erreichen, nahe DNA-Matches, mit denen sich weiterforschen ließe, blieben ebenfalls aus, sodass mir eigentlich nichts weiter übrigblieb, als das Thema ruhen zu lassen. Ich hatte zwar mein Ziel, meinen Vater zu finden, nicht erreicht, aber dass die Suche nun zu einem Ende gefunden hat, zumindest insoweit als dass ich aktiv nichts mehr dazu beitragen konnte, hatte auch einen entspannenden Effekt. Mir war es immer wichtig, mir nicht irgendwann vorwerfen zu müssen irgendwelchen Spuren nicht nachgegangen zu sein und das hatte ich erreicht.

Von da an trat das Thema also stärker in den Hintergrund. Ich lernte weiter für mein Studium (ich studierte im Master in Berlin), arbeitete nebenher in einer gemeinnützigen Organisation und genoss das Großstadtleben. Ich weiß noch, dass ich zu dieser Zeit das Gefühl hatte, dass sich wirklich etwas in mir verändert hat und ich die Suche nach dem Spender besser loslassen konnte. Es ging mir so gut, wie schon lange nicht mehr und ich freute mich einfach, dass alles so ist, wie es ist. Und dann passierte etwas, womit ich niemals gerechnet hätte…

Eines morgens im Herbst 2015 wachte ich auf und fand eine E-Mail auf meinem Handy vor, die der Anfang einer langen Reihe von Verkettungen war. Ein Mann, der Ende der 80er Jahre bei genau dem Arzt Samen gespendet hatte, bei dem ich gezeugt wurde, hatte die WDR-Dokumentation über mich gesehen und meldete sich bei mir. Er wollte Verantwortung übernehmen und seinen Spenderkindern ermöglichen, ihn kennenzulernen, wenn Sie das möchten. Dafür hatte er bereits seine DNA an Family Tree DNA geschickt, das Ergebnis stand noch aus. Er schickte mir noch ein Foto von sich. Mit seinen blonden Haaren und blau-Grünen Augen passt er genau in mein Spenderprofil. Auch sein Spendenzeitraum passte zu meinem Zeugungsdatum. Oh mein Gott… Könnte dieser Mann mein Vater sein??

Ein DNA-Test widerlegte das dann. Kurz darauf neue Hoffnung: er hatte noch einen Freund, der ebenfalls in der gleichen Praxis Samen spendete und passen würde. Bitte was? Es folgten unzählige Emails und so einen Austausch habe ich wirklich noch nie erlebt. Mein Papa sagte nach der erfolglosen Gerichtsverhandlung immer, dass ich meinen Spender bestimmt über „Kommissar Zufall“ finden würde – und nun hatte ich das Gefühl, dass genau dieser „Kommissar“ jetzt am Werk ist.

Als ich ein Foto von diesem zweiten Mann sah, fing ich erstmal an zu heulen. Dieses „Phantom eines Spenders“, das so lange um mich herumgeisterte, schien so langsam ein Gesicht zu bekommen. Naja, zwei Gesichter, um genau zu sein! Doch auch der zweite Spender war nicht mein biologischer Vater, der DNA-Test war eindeutig..

Natürlich war ich enttäuscht. Wir alle waren es. Da hatte ich gleich zwei Spender gefunden, bei denen alles stimmte, und war doch mit keinem der beiden verwandt. Trotzdem war ich unglaublich dankbar für die Erfahrung, dass diese Menschen in mein Leben getreten sind. Es hatte mir in gewisser Weise schon mal gezeigt, wie es sich anfühlt, wenn ich meinen Vater irgendwann mal finden sollte. Trotz der ganzen Aufregung habe ich irgendwie eine Ruhe wahrgenommen, die ich sonst nicht kannte.

Nicht zu wissen, wer der eigene Vater ist, mag sich für manche nicht so gravierend anhören, gerade wenn man eine Mutter und einen Ziehvater hat, die liebevoll für einen da waren und noch immer sind. Aber dieses Nichtwissen macht was mit einem, mit mir jedenfalls. Nicht in der Art, als dass ich ständig heulen musste oder komplett verzweifelte und in Depressionen versunken bin. Es war eher eine Art Pochen, an das man sich vielleicht mit der Zeit gewöhnte, aber dennoch immer ein bisschen ablenkte und nervte.

Die Suche geht weiter…

Meine Suche hatte zwar kein Ende gefunden – schließlich war leider keiner der beiden Spender mein Vater – trotzdem hatte ich das Gefühl durch diese Erfahrung unglaublich viel gewonnen zu haben. Als käme ich meinem „richtigen“ Vater zumindest ein bisschen näher, denn durch den Austausch mit den Spendern habe ich so viele Einblick in „ihre Welt“ erhalten, die für mich vorher nur ein riesiges Mysterium war.

Als Spenderkind, das sich auf die Suche nach dem Spender macht, hört und liest man häufig von der Annahme, dass die Spender nur das Geld wollten und von ihren Kindern nichts wissen möchten. Dass man möglicherweise glückliche Familien zerstört, wenn man eine Kontaktaufnahme startet usw. Nun, das mag vielleicht auf manche Spender zutreffen, aber wie ich gelernt habe, lange nicht auf alle. Beide Spender waren mir gegenüber aufgeschlossen und hätten sich gefreut, mit mir eine Tochter gefunden zu haben.

Das hat mich sehr beeindruckt und ermutigt, noch nicht aufzugeben. Tatsächlich hat sich durch die beiden Spender wieder eine Spur aufgetan. Denn durch die Schilderung ihrer Spendertätigkeiten entstanden starke Zweifel an der Begründung des Arztes, warum er keine Unterlagen der Spender mehr besitze. Zur Erinnerung: er sagte damals bei Gericht, er hätte den Spendern die Karteikarte mit ihren Daten und Informationen nach deren Ausscheiden zurückgegeben, um Ihnen zu versichern, dass ihre Spenderkinder niemals die Möglichkeit hätten, Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Allerdings hatten beide Spender nie irgendwas Vergleichbares von ihm erhalten.

Ich wusste mittlerweile, wie eine Gerichtsverhandlung abläuft und vor allem, wie anstrengend, zäh und nervenaufreibend so ein Prozess ist. Diese ständige Ungewissheit und Warterei war für mich teilweise extrem schwierig auszuhalten. Daher war mein Interesse, das Verfahren wieder neu aufzurollen ziemlich gering und so überlegte ich, den Arzt erstmal wieder privat zu kontaktieren und ihm von den neuen Erkenntnissen zu berichten. Ich teilte ihm zudem mit, inwiefern ich mir eine außergerichtliche Einigung mit ihm vorstellen könnte, in der alle Rechte gewahrt bleiben.

Der Arzt reagierte nicht. Aber aufgeben wollte ich auch nicht. Und so entschied ich mich dazu, doch wieder den juristischen Weg einzuschlagen und den geschlossenen Vergleich vor dem Landgericht München anzufechten.

Gerichtsverfahren 2: Doch noch Daten vorhanden

Auch dieses zweite Verfahren zog sich mehrere Jahre… Aber es nahm Wendungen, die ich mir nie hätte vorstellen können. Immer wenn ich dachte, es geht nicht mehr weiter, kamen neue Informationen ans Licht.

Der lang ersehnte Durchbruch

Im August 2019 kam es zum entscheidenden Verhandlungstermin. Der Hauptanlass war die Vernehmung einer Mitarbeiterin des Praxisnachfolgers. Ihre brisante Aussage: Es sind doch noch Spenderdaten vorhanden – von über 60 Spendern! – mit Namen, Adressen und Spendernummern.

Ihr selbst wurden damals die Listen zugeteilt, da sie die Aufgabe erhielt zu ermitteln, wie viele Kinder pro Spender entstanden sind. Diejenigen, die schon mehr als 10 oder 15 Kinder hatten, sollten demnach nicht übernommen werden. Die schockierende Nachricht: Ihrer Auszählung nach wurde die Limitierung von max. 10 Kindern pro Spender teilweise weit überschritten. Im krassesten Fall hat ein Spender 107 (dokumentierte) Kinder gezeugt.

Das entscheidende war aber, dass nicht nur noch Daten von Spendern vorhanden sind, sondern dass darunter auch Spender waren die auch zu meiner Zeugungszeit tätig waren. Der Arzt räumte ein, dass die auf der Liste stehenden Männer sogar bis zur Anfangszeit seiner Praxistätigkeit zurückreichen könnten. Endlich!

Ich hab eine Halbschwester!

Von nun an erfolgte der Versuch, sich über das Gericht mit dem Arzt irgendwie zu einigen. Nach dem OLG Hamm von 2013 sollten auch mehrere Spender genannt werden können, wenn sich diese nicht eindeutig zuordnen lassen. In meinem Fall wären es jedoch fast 70 Spender gewesen.

Die Verhandlungen hierfür waren zäh und der Arzt versuchte weiterhin immer wieder zu blockieren. Das Gericht tat jedoch viel dafür, dass wir doch noch eine Einigung erzielen. Es stellte außerdem klar, dass gegenüber den Spendern keine Schweigepflicht bestehe und es möglich wäre, mir alle Spender direkt zu nennen.

Es tat echt gut, mich endlich in meinem Recht bestätigt zu sehen. Es schien, als hätten sich diese jahrelangen Mühen endlich gelohnt. Doch plötzlich fingen sich die Ereignisse an förmlich zu überschlagen…

Das erste „Wunder“ – so will ich es mal nennen – ereignete sich am 19. Februar 2020. Es war ein Sonntag. Mein damaliger Freund und ich lümmelten Abends auf dem Sofa herum und schauten einen Film. Mich plagten Kopfschmerzen und ich war schon mehrfach nebenbei eingeschlafen. Irgendwann schaute ich mal auf mein Handy und überprüfte routinemäßig meine Emails. Dabei bemerkte ich eine Email von Myheritage – einer der DNA-Datenbanken. Sie verschicken jede Woche ein Mailing mit aktuellen Neuigkeiten, z.B. ob man neue Informationen im Stammbaum gefunden hat oder ob es neue DNA-Treffer gibt – das waren bei mir immer nur ganz weit entfernte Verwandtentreffer.

Nicht so an diesem Tag. Da stand doch allen Ernstes eine Frau drin, die mir als Tante oder Halbschwester angezeigt wurde! Ich dachte ich träume! Sooo lange habe ich mir gewünscht, dass dieses Ereignis irgendwann einmal eintritt und nun ging dieser Wunsch in Erfüllung.

Noch am selben Abend haben wir telefoniert. Es war unglaublich: als ich ihre Stimme hörte, dachte ich mich selbst zu hören. Natürlich wurden dann auch direkt einige Bilder als Kinder und als Erwachsene ausgetauscht. Ich war so baff, da wir uns vor allem als Kinder sehr ähnlich sahen, obwohl sich Haar- und Augenfarbe unterscheiden. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich wirklich so deutliche Ähnlichkeiten mit jemandem entdeckt habe, ein unglaubliches Gefühl. Aber das allerschönste war, dass sie sich über unser Match genauso freute, wie ich.

Beeindruckend fand ich auch, wie sich durch dieses Match auch das Bild über unseren genetischen Vater weiter formte, obwohl er weiterhin anonym blieb. Meine Halbschwester ist 8 Jahre älter als ich. Das bedeutet, dass auch unser Vater älter ist, als ich annahm – vermutlich mindestens um die 60. Außerdem wussten wir nun, dass er wirklich ein heller Typ sein muss, wahrscheinlich mit Sommersprossen und vermutlich Brillenträger ist.

Obwohl wir uns ja doch gerade erst kennenlernten, verspürte ich sofort eine große Vertrautheit. Wir haben seit unserem Match einen super schönen Kontakt miteinander und sind uns auch charakterlich sehr ähnlich. Da sie in München lebt und ich in Berlin, sehen wir uns nicht allzu oft, haben jedoch regelmäßig telefonisch Kontakt. Ich bin echt so glücklich, sie nicht nur als Halbschwester, sondern auch als neue Freundin gefunden zu haben – sie ist wirklich ein ganz lieber und toller Mensch und ich bin sehr stolz darauf mit ihr verwandt zu sein.

Endlich! Das Ende eines jahrelangen Gerichtsverfahrens

Parallel zu diesem Wahnsinnsereignis lief mein Gerichtsverfahren weiter. Es folgten wieder mehrere Wochen, in denen Fristen neu verschoben wurden. Im Februar 2020 war es dann aber soweit: Der Reproduktionsmediziner und ich erzielten eine Einigung, wonach ich ALLE noch vorhandenen Spenderdaten erhalten sollte, mich hinsichtlich dieser Daten natürlich zur Verschwiegenheit verpflichte und die Recherchen selbst übernehme, auf eigene Kosten.

Plötzlich hatte ich super viele Daten von Männern, die Samen spendeten und irgendwie potenziell mein Vater sein konnten. Was folgte waren viele Recherchen. Über einige Spender ließen sich leicht relevante Informationen finden. Von vielen fand man direkt auch Fotos. Es waren eigentlich alles sehr freundlich wirkende, gebildete Männer… wow, so sehen also Samenspender aus. Es war schon ein faszinierendes, aber auch sehr merkwürdiges Gefühl, nun in dieses private „Geheimnis“ von mir völlig fremden Männern eingeweiht zu sein, was in vielen Fällen wohl noch nicht mal die engste Familie wusste. Die Verantwortung, die damit einherging, war mir absolut bewusst. 

Nach wenigen Tagen hatte ich die infrage kommenden Spender auf eine kleine Gruppe eingegrenzt. Viele konnte ich leicht aufgrund ihres Alters ausschließen. Ich wusste ja durch das Match mit meiner Halbschwester, dass unser genetischer Vater mindestens 1962 geboren sein müsse und das erfüllten nicht allzu viele. Einer stach mir besonders ins Auge. Seine blond-rötlichen Haare, Sommersprossen und auch die Gesichtszüge sahen unseren recht ähnlich. Irgendwie hatte ich die Idee, dass ich seinen Nachnamen ja mal bei den DNA-Datenbanken suchen könnte. Wenn wir verwandt sind, könnte sein Nachname dort ja auftauchen.

Das entscheidende DNA-Match

Seinen Namen fand ich dort nicht, dafür aber etwas anderes – ich hatte ein Match mit einer Cousine 2. Grades!! Oh mein Gott, kann das wirklich sein?? Ich fühlte mich wie im Film. Aber jetzt war ich wirklich überzeugt: ich werde meinen genetischen Vater finden!

Natürlich schrieb ich meiner neu gefundenen Cousine sofort eine Nachricht. Doch darauf folgte wochenlang keine Antwort. Wie ich sehen konnte, war sie auch nicht mehr auf der DNA-Seite eingeloggt. Also startete ich eine Internetrecherche. Dabei sprangen mir gleich mehrere Personen mit diesem Namen entgegen. Oh man, so viele… Wie soll ich da eine Spur finden? In ihrem Profil auf der DNA-Seite stand auch nicht viel. Nur eines war interessant: sie wurde als 100% jüdisch angezeigt. Ich wusste schon, dass es eine jüdische Familie sein muss, da auch meine DNA als 50% jüdisch ausgewiesen wurde. Also gab ich ihren Namen einfach mal mit dem Stichwort „jewish“ auf Google ein. Und da sprang mir doch tatsächlich jemand entgegen. Eine Rabbinerin aus den USA. Könnte sie das sein? Möglich – viele Juden sind durch den Holocaust in die USA geflohen.

Zum Glück gab es relativ viele Informationen über sie im Internet. Ich fand sogar ihren Stammbaum, der sehr weit ausgebaut war. Wenn sie tatsächlich meine Cousine 2. Grades ist, teilen wir dieselben Urgroßeltern. Diese waren alle eingetragen mit sehr vielen Kindern und Nachfahren.

Da ich keine andere Spur hatte, fing ich einfach mal an, ihren Stammbaum zu erforschen. Ich fand heraus, dass die Familie ursprünglich aus Osteuropa kam und durch den Holocaust vertrieben wurde. Viele leben heute in den USA, einige in Israel. Ich durchforstete sämtliche Stammbäume, die sich irgendwie überschnitten, schaute mir alte Dokumente an usw. Und dann, ganz unerhofft, tauchte bei einer Frau, die vom Verwandtschaftsgrad meine Großmutter sein könnte, plötzlich München auf. Der Ort der Praxis, in der ich gezeugt wurde.

Ich hab das erst gar nicht richtig realisiert, sondern nahm es einfach zur Kenntnis und suchte weiter. Die weiteren Recherchen ergaben, dass ihr Ehemann in München durch die Gründung eines Unternehmens zu einiger Bekanntheit erlangte. Außerdem haben sie zwei Söhne. Könnte einer dieser Söhne unser Vater sein?

Es folgten zahlreiche weitere Recherchen – auch meine Halbschwester war fleißig dabei. Wir fanden einige Informationen über den älteren Sohn, sogar Fotos, die verblüffende Ähnlichkeiten mit uns aufwiesen. Der jüngere Sohn hingegen war wie untergetaucht, auch sein Vorname blieb uns verborgen.

Doch dann, als wir schon gar nicht mehr damit rechneten, flatterte eine Email in mein Postfach. Die Cousine 2. Grades, mit der ich das Match hatte, hat endlich geantwortet und konnte uns alles, was wir bis dahin schon herausgefunden hatten, bestätigen. Wir haben also tatsächlich den richtigen Stammbaum gefunden – was für ein Zufall! Sie erzählte mir, dass der ältere Bruder, sich aus ihr unbekannten Gründen von der Familie abgewandt hatte und keiner so richtig wisse, wo er ist (wir schon 😉 ). Und schließlich nannte sie uns auch den Vornamen des jüngeren Bruders. Er arbeitete als Psychiater und sei sogar hin und wieder im Kontakt mit ihrer Mutter. Sie wollte sich dafür einsetzen, seine Adresse herauszufinden, doch irgendwann verlief sich der Kontakt wieder und sie antwortete nicht mehr.

Also suchten wir wieder auf eigene Faust weiter. Immerhin hatte ich nun schon die Namen von zwei Männern, von denen einer aller Wahrscheinlichkeit nach meinem genetischen Vater und der andere meinem genetischen Onkel gehörte.

Mein Gefühl sagte mir schnell, dass der jüngere eher mein Vater sein könnte. Der ältere hatte zum Zeitpunkt meiner Zeugung bereits drei Kinder, war beruflich in das Unternehmen seines Vaters eingebunden, zudem ein Unternehmen, womit ich mich irgendwie gar nicht identifizieren konnte.

Also begannen wir nach seinen Kontaktdaten zu recherchieren. Eine erneute Odyssee. Zwar fanden wir immer kleine Spuren, wie z.B. seine Arbeitsadresse, doch die waren alle nicht mehr aktuell. Eine alte Email, die im Internet herumgeisterte, wurde bereits gesperrt. Auch eine Anfrage beim Einwohnermeldeamt führte uns nicht weiter. Meine letzte Hoffnung: die Ärztekammer. Ich schrieb ihnen eine Email mit der Bitte um Weiterleitung eines Briefes, da ich den besagten Arzt über eine dringende familiäre Angelegenheit informieren müsse. Ein sehr freundlicher und hilfsbereiter Mitarbeiter antwortete mir und kam meiner Bitte nach.

Ich hatte bereits über mehrere Wochen hinweg an einem Brief geschrieben (dank des Corona Lockdowns im Frühjahr 2020 hatte ich genügend Zeit dafür), den ich meinem genetischen Vater schicken wollte. Und nun war der Tag gekommen, ihn endlich abzuschicken.

Erneut durfte ich meine Geduld unter Beweis stellen. Tage vergingen… die erste Woche… die zweite Woche… Ich war schon drauf und dran einen zweiten Brief abzuschicken, an seinen Bruder… Bis dann doch eine Email in mein Postfach flatterte…

Endlich Kontakt!

Es war der 25. Juni 2020. Ich arbeitete Corona bedingt im Homeoffice. Natürlich checkte ich ständig mein Postfach, in der Hoffnung, endlich eine Antwort vorzufinden. Und irgendwann kam sie tatsächlich. Mein Herz raste.

Es war eine etwas verhaltene und dennoch schöne erste Email von ihm. Er bestätigte lange Jahre Samenspender in besagter Praxis gewesen zu sein, war natürlich sehr überrascht von meinem Brief, doch auch „sehr positiv berührt“ und neugierig mich kennenzulernen. Er lebte mittlerweile im Ausland, doch in ein paar Monaten wäre er mal wieder in München, dort könnten wir uns treffen.

Was für ein riesiger Stein mir in diesem Moment vom Herzen fiel. Dass er mir so freundlich antwortete, war das größte Geschenk für mich, das er mir machen konnte. Ich freute mich riesig über seine Offenheit und sein Interesse, auch mich näher kennenzulernen.

Es folgten unzählige Emails. Auch mit meiner Halbschwester schrieb er regelmäßig. Seine anfängliche Zurückhaltung wich schnell und er wurde immer offener, ging bereitwillig auf alle meine Frage ein, erzählte mir von sich, seinem Leben und seiner Familie und freute sich sichtlich über den Austausch mit uns. Er hatte noch zwei Söhne, mit denen er aber keinen Kontakt mehr hatte. Ich habe also noch zwei Halbbrüder!

Natürlich tauschten wir auch ein paar Fotos aus. Er sah anders aus, als ich ihn mir vorstellte. Hätte ich ihn auf der Straße getroffen, hätte ich vermutlich nicht gedacht, dass er mein Vater sein könnte. Doch ein paar Ähnlichkeiten ließen sich nicht leugnen. Die Augen, das freundliche Lächeln, eine Liebe für Hunde und die kleinere Körpergröße und Sprachgewandtheit hatten wir definitiv gemeinsam.

Was mich außerdem sehr erleichterte, war, dass seine Frau bereits von seinen Samenspenden wusste und ebenfalls sehr offen und neugierig reagierte. Man merkte richtig, dass von allen Seiten das Vertrauen und die Freude auf unser erstes persönliches Treffen wuchs.

Das erste Treffen

Anfang September 2020 war es dann so weit. Ich reiste einen Tag vorher nach München und durfte dann bei meiner Halbschwester übernachten. Bei meiner Anreise war ich noch ziemlich entspannt, aber je näher unser Treffen rückte, desto nervöser wurde ich. Ich weiß noch, wie ich mit meinem Mascara abrutschte und nicht nur schwarze Farbe in meinen Haaren verteilte, sondern auch auf meinem Oberteil.

Egal. Am Vormittag des 05. September sollte ich nun meinem genetischen Vater begegnen. Meine Vorstellung: Wir sehen uns aus der Ferne und laufen, wie im Film, mit offenen Armen aufeinander zu. Die Realität: Ich ging aus der Haustür, und da stand er schon vor mir. Ich erschreckte mich fast zu Tode. Doch es war herzlich und schön und wir umarmten uns.

Was folgte war eine Stadtrundfahrt durch München an Orte, die in seinem Leben eine größere Rolle spielten. Wir fuhren am Haus vorbei, wo er aufgewachsen ist, an der Universität, verschiedenen Kliniken, in denen er arbeitete, Plätze an denen er gewohnt und Eis gegessen hat… Danach fuhren wir zum Nymphenburger Schloss, gingen dort mit seiner Hündin spazieren und aßen anschließend traditionell bayerisch im Biergarten.

Die Zeit verging wie im Fluge. Wir unterhielten uns ununterbrochen, waren einander aufgeschlossen und sichtlich sympathisch. Ich merkte, dass wir eine ähnliche Art zu denken hatten und obwohl wir uns kaum kannten, war da ein großes Vertrauen und eine Herzlichkeit, die ich so niemals erwartet hätte.

Voll gepackt mit tausend Eindrücken, Gedanken und Informationen ging der Tag zu Ende. Es war ein unfassbarer Tag, den ich wohl nie vergessen werde. Niemals hätte ich mir das erste Treffen so schön vorgestellt.

Ein komisches Gefühl

Vollkommen erfüllt und gerührt von dieser wundervollen Erfahrung fuhr ich wieder nach Berlin. Es stand bereits ein zweites Treffen in Aussicht, einige Monate später, zusammen mit meiner Halbschwester und seiner Frau. Bis dahin blieben wir regelmäßig in Kontakt. Wir telefonierten fast wöchentlich und hatten uns immer eine Menge zu erzählen. Man spürte auch, wie sich unser Verhältnis veränderte. Er bezeichnete uns inzwischen stolz als seine Töchter, erzählte auch engen Freunden von uns, hing Fotos von uns in seiner Wohnung auf.

Wir bewegten uns in eine Richtung, die ich ehrlich gesagte nie erwartet hätte. Eine Art Vater-Tochter-Beziehung. Natürlich hatte ich mir erhofft, dass wir uns gut verstehen und einen freundlichen Kontakt pflegen würden, aber irgendwie bahnte sich da doch etwas mehr an.

Die Tatsache, dass er uns als seine Töchter anerkannte, freute mich, aber vor dem Hintergrund dessen, dass er ja auch noch zwei Söhne hat, die er so komplett aus seinem Leben ausschloss (nicht unbedingt bewusst und gewollt, aber dennoch bemühte er sich auch nicht um Kontakt mit ihnen), beschlich mich auch ein etwas komisches Gefühl. Hinzu kommt, dass wir ja aller Wahrscheinlichkeit auch noch mehr Halbgeschwister haben (er spendete ca. 15 Jahre regelmäßig, es könnten also 30, 50 oder vielleicht 100 Halbgeschwister sein), wo er schon zu Beginn sagte, dass er zwar uns sehr gerne hat, mit weiteren „Spenderkindern“ aber keinen Kontakt möchte. Es fühlte sich für mich nicht richtig an, dass er uns das Privileg seiner Offenheit und liebevollen väterlichen Zuwendung zugesteht, mit seinen rechtlichen Söhnen jedoch gebrochen hast und auch mit seinen anderen Kindern, die vielleicht irgendwann noch auftauchen und ebenfalls ihren genetischen Vater suchen werden, nichts zu tun haben möchte. Ich selbst hatte dieses Privileg ja auch nur durch den Zufall, dass ich eben die erste war, die ihn gefunden und Kontakt mit ihm aufgenommen hatte.

Ich malte mir aus, dass wir spätestens bei einem weiteren „Match“ ein Problem bekommen könnten, traute mich aber erstmal nicht, diesen Gedanken zu teilen.

Das zweite und letzte Treffen

Im November 2020 fand unser zweites Treffen statt, wieder in München. Zuerst trafen wir uns zu dritt – meine Halbschwester, er, und ich – auf einen Hundespaziergang. Es war schön, aber auch mit ein paar seltsamen Schweigepausen. Am Abend trafen wir uns dann in etwas größerer Runde. Auch der Mann meiner Halbschwester und die Frau unseres Vaters waren dabei.

Seine Frau kam uns direkt mit weit geöffneten Armen entgegen. Sie war super sympathisch, lustig und laut. Er hingegen nahm an dem Abend eher einen ruhigeren Part ein, war zwar freundlich, aber sagte wenig und wirkte irgendwie nachdenklich. Dennoch war es ein schönes Treffen. Wir lachten viel, machten viele Fotos – Familienfotos…

Es sollte unser letztes Treffen gewesen. Zwei Tage später – ich war wieder in Berlin – erreichte mich eine Email, adressiert an meine Halbschwester und mich.

Sein Glück mit uns habe sich, wie er schrieb, massiv eingetrübt. Er war verletzt über zwei Äußerungen von uns. Eine Äußerung von mir, in der ich ihn und meine neu gefundene Familie als „Spenderfamilie“ bezeichnete. Und eine Äußerung meiner Halbschwester, die ihm sagte, dass es für sie einen Unterschied machte, ob man zusammen aufgewachsen ist oder nicht.

Er war deshalb so verletzt, weil er uns, wie er schrieb, inzwischen komplett als seine Kinder, seine Töchter empfunden hat und sich auch von uns wünschte, als „integrativer Bestandteil unserer Familien“ gesehen zu werden. Dass wir ihn nun „nur“ als „Spendervater in einer Spenderfamilie“ gesehen haben, empfand er als rücksichtslos und beleidigend. Und so würde er nicht weitermachen wollen.

Über diese Email war ich natürlich ziemlich überrascht. Ich hätte nicht gedacht, dass die Bezeichnung „Spenderfamilie“ ihn verletzen würde, da ich diesen Begriff ganz nüchtern schon seit einigen Jahren einfach als Beschreibung dieses Teils meiner Familie verwendet habe, die nun mal durch seine Samenspenden zustande gekommen ist. Insofern war diese Bezeichnung überhaupt nicht böse oder gar abwertend gemeint und sollte auch nicht heißen, dass ich uns nicht als „Familie“ sehe. Ich habe ihn auch schon vor unserem Kennenlernen als meinen genetischen Vater gesehen und das wird auch immer so bleiben – ob mit oder ohne Kontakt.

Was das „familiäre Gefühl“ mit ihm, seiner Frau und seiner Familie insgesamt angeht, habe ich (ähnlich wie meine Halbschwester) natürlich noch eine gewisse Distanz gespürt und auch gemerkt, dass es einfach etwas Zeit braucht, bis ich die Lebensereignisse verarbeiten und mich in die neue Rolle in der Familie einfinden konnte. Wir sind uns ja als völlig fremde Menschen begegnet, und bei mir ist es so, dass sich Vertrauen und familiäre Gefühle erst nach und nach entwickeln. Es war schade, dass er mir diese Zeit nicht zugestehen konnte. Dies als Bedingung zu stellen und bei Nichterfüllen mit einem Kontaktabbruch zu drohen, fand ich befremdlich.

Mir war klar, dass dies nun tatsächlich das Ende unseres Kontakts bedeuten könnte. In diesem Bewusstsein schrieb ich auch meine Antwort an ihn. Ich dankte ihm dafür, dass ich ihn nach jahrelanger Suche kennenlernen und mehr über ihn und seine Familie erfahren durften. Ein Erlebnis, das für mich nach wie vor wie ein Wunder ist. Doch ich habe diese Email auch genutzt, ihm mein Gefühl mitzuteilen, dass zur Familie ja eigentlich auch seine Söhne und die vielen anderen Spenderkinder zählen und ich mit diesem Widerspruch irgendwie nicht klar komme. Ich war irgendwie erleichtert, das endlich aussprechen zu können.

Seine Antwort war wie erwartet. Er wollte nun doch lieber wieder seinen eigenen Weg gehen. Und so verschwand er wieder aus meinem Leben…

Für mich trotzdem ein Happy End

Was sich nach einer enttäuschenden Wendung anhört, ist es eigentlich nicht. Ich bin unheimlich dankbar, dass er sich mir nach jahrelanger Suche so aufgeschlossen zeigte. Und zwar vollkommen ehrlich als der, der er ist. Dass er mich dann auch noch als seine Tochter anerkannte, bedeutete mir viel.

Seit meine Suche ein Ende gefunden hat, fühle ich mich wirklich bei mir angekommen. Das nervige Pochen der Ungewissheit hat endlich zur Ruhe gefunden. Ein andauernder Kontakt mit ihm wäre natürlich ein schöner Bonus gewesen, den ich aber auf nicht unbedingt brauchte. Stattdessen hat sich der Kontakt zu meiner Mutter und meinem sozialen Vater verbessert, die mir all die Jahre den Rücken stärkten, mit mir mit fieberten und sich nicht zuletzt auch mir zuliebe eigenen unangenehmen Gefühlen stellten, die im Rahmen meiner aufrüttelnden Suche auch bei ihnen hochkamen. Der Kontakt mit meiner Halbschwester hat sich weiter gefestigt und auch meine Halbbrüder (die rechtlichen Söhne meines Vaters) konnte ich nach dem Kontaktabbruch mit meinem genetischen Vater kennenlernen. Das alles sind für mich sehr wertvolle Erlebnisse, die ich auf keinen Fall missen möchte und die für mich definitiv ein „Happy End“ sind. Wenngleich es natürlich kein wirkliches Ende ist.

Insgesamt lehrte mich die gesamte Erfahrung meiner Suche unglaublich viel über mich selbst. Es zeigte mir, dass ich meinen Gefühlen und Impulsen vertrauen und auch Dinge schaffen kann, die fast unmöglich scheinen. Ich lernte vor allem an mich selbst zu glauben und über was für eine Lebenskraft ich verfüge.

Nicht zuletzt lernte ich, dass man aus einer Familienkonstellation, die vielleicht kompliziert und herausfordernd anmutet, überaus gestärkt hervorgehen und mit Liebe und vielen Wundern überrascht werden kann.

Übrigens: Der Name meines genetischen Vaters stand nicht in den Spender-Daten, die ich von dem Arzt erhalten hatte. Man könnte also sagen, dass dieser ganze Stress um dieses Verfahren irgendwie umsonst war. Trotzdem hatte es was Gutes, da jetzt auch andere Spenderkinder Zugriff darauf bekommen haben – der Arzt gibt diese mittlerweile unter Einhaltung derselben Bedingungen wie bei mir bereitwillig heraus. In einigen Fällen konnte der passende Spender mithilfe dieser Daten schon ermittelt werden.