Sophia

Vor ein paar Wochen gab es einen riesigen Familienstreit und meine Eltern entschieden sich, uns jetzt über unsere Herkunft zu informieren, um einem aufgebrachten Familienmitglied zuvorzukommen. Dieses Jahr werde ich 30 und bislang wussten in unserer Familie nur fünf Personen von den Umständen unserer Zeugung. Ob wir es je erfahren würden, darüber waren meine Eltern unsicher (ihnen hatte man von ärztlicher Seite nahegelegt, uns im Unwissen zu lassen) und sie verpassten immer wieder mögliche Zeitpunkte.

Ende der 80er/ Anfang der 90er versuchten sie fast fünf Jahre lang, ein Kind zu bekommen. Beide waren damals Mitte Zwanzig. Dann kam die niederschmetternde Gewissheit: Mein Vater ist zeugungsunfähig. Über eine Adoption informierten sie sich, aber wurden abgeschreckt vom riesigen Aufwand. Meine Mutter wollte auch nicht verpflichtet werden, deshalb (für einige Jahre) ihren geliebten Job aufgeben zu müssen. 

So wurde ihnen damals die Möglichkeit aufgezeigt, nach München in die Praxis von Dr. Michael Poluda zu fahren und mit einer anonymen Samenspende eine Insemination durchführen zu lassen. Beim dritten Versuch hat es geklappt und ich war auf dem Weg. 

Die Ärzt*innen haben vermeintlich meinen Vater angeguckt und dann einen Spender ausgesucht, der ihm ähnlichsieht. Die Spender waren angeblich – das lese ich auch in vielen Erfahrungsberichten anderer Spenderkinder – hauptsächlich (Medizin)Studenten. Ob das stimmt? So im Detail kann ich mich an das Gespräch mit meinen Eltern nicht erinnern, zu groß war meine Ungläubigkeit. Aber ich glaube, meine erste Frage war, ob meine Schwester und ich vom selben Spender seien. Meine Mutter entgegnete: „wahrscheinlich nicht.“ Sie hätten damals (die Inseminationen waren 1993 und 1997) nicht entscheiden dürfen, von wem die Samen kamen. Die Wahl der Spender lag bei den Ärzt*innen und nicht bei ihnen.

Zwischen unseren Zeugungen war meine Mutter einmal schwanger und verlor das Kind in den ersten Monaten. Und dann kam die ICSI-Methode auf. Es gab also doch eine kleine Chance, dass meine Eltern zusammen ein Kind bekämen. Mein Vater entschied sich dagegen und für eine weitere Befruchtung mit Spendersamen. Er wollte nicht (unbewusst) seine Kinder ungleich behandeln, wenn eines von ihm wäre und eines nicht. Und das rechne ihm hoch an.

Endlich habe ich eine Erklärung dafür, weshalb meine Schwester und ich uns so wenig ähneln. Ich bin meiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, meine Schwester kam eher nach meinem Vater – dachten wir. Er ist außergewöhnlich groß, fast zwei Meter, und auch meine Mutter eine große Frau. Meine jüngere Schwester überragt mich locker um zehn Zentimeter und ich bin in der Familie irgendwie ziemlich klein geraten. Auch bei vielen Wesenszügen komme ich eher nach meiner Mutter und meine Schwester nach unserem Vater.

Ich lese, dass viele Spenderkinder immer das Gefühl hatten, es gäbe ein Familiengeheimnis. Das ist bei mir nicht so. Dass ich manchmal das Gefühl hatte, mit meiner kreativen, chaotischen und verträumten Ader nicht ganz in die Familie zu passen, das kenne ich allerdings. Und seit ich dieses Wissen um 50% meiner Gene habe, ist in mir eine gewisse Ruhe eingekehrt. Weil ich meine Eltern so ehrlich und verletzlich erlebt habe. Und weil ein Puzzleteil hinzukam, bei dem ich nicht wusste, dass es fehlt.

Stand Jetzt möchte ich damit anders umgehen, als es die Spenderkinder tun, die Gerichtsverfahren veranlassen, um Auskunft zu erhalten oder nach Auskunft durch einen Arzt Ablehnung durch die Spender erfahren, die nicht kontaktiert werden wollten. Diesen Weg möchte ich gerade jetzt nicht gehen. Es erscheint mir passender, mich bei einer oder mehreren DNA-Datenbanken zu registrieren. Denn dann ist zumindest von der Seite des Samenspenders die Bereitschaft da, gefunden zu werden. Aber will ich das wirklich? Irgendwie hat mir der Verlust eines Teils meiner Identität gerade auch einen Freiraum eröffnet, mir einen eigenen biologischen Vater auszumalen. Ein Franzose vielleicht, Künstler, sensibel und vielseitig interessiert. Der biologische Vater meiner Schwester wird ganz anders sein, denn sie ist im Wesen introvertiert, strukturiert, mathematisch begabt und hat einen wunderbar trockenen, intelligenten Humor. 

Dass sie „nur“ meine Halbschwester ist, macht mich irgendwie einsam. Und dass wir es womöglich nie erfahren sollten, fassungslos. Wir stecken auf jeden Fall beide noch in der Phase, es Stück für Stück zu realisieren. Vielleicht erhoffe ich mir von den Datenbanken oder durch den Verein, eher Halbgeschwister zu finden als den Erzeuger. Denn dann kann ich bei meinem Phantasiebild bleiben.