Oft melden sich Spenderkinder bei uns, die gerade erst von ihrer Zeugung durch Samenvermittlung erfahren haben. Manche hatten schon lange eine Ahnung, dass ihre Eltern ihnen etwas über ihre Abstammung verschweigen, andere haben es aus relativ heiterem Himmel erfahren, manche auch erst über die Anzeige von Halbgeschwistern oder ihren genetischen Vater in einer DNA-Datenbank.
Menschen sind verschieden und reagieren deswegen auch unterschiedlich auf eine solche Neuigkeit. Deswegen können wir nur ganz allgemeine Empfehlungen für diese Situation geben, die aber vielleicht trotzdem wichtig sind.
* Diese Empfehlungen gelten natürlich auch über die erste Zeit nach der Aufklärung hinaus. Manchmal ist es im weiteren Verlauf hilfreich, sich an sie zu erinnern.
1. Alle Gefühle sind berechtigt
Viele spät aufgeklärte Spenderkinder empfinden die Neuigkeit, durch Samenvermittlung entstanden zu sein, als schockierend.
Ich fühle mich wie ein Haus nach einem Erdbeben mit nur noch 3 Wänden, bei dem die halbe Badewanne raushängt und man in alle Zimmer gucken kann. Ich bin unglaublich wütend, dass man mir das nicht vorher gesagt hat, mir nicht zugetraut hat, mit der Information umzugehen und sie in mein Ich einzubauen.
Es gibt aber auch Spenderkinder, die eher erleichtert sind, zum Beispiel weil sie schon vorher den Eindruck hatten, dass irgendetwas nicht stimmt.
Für mich war es damals im ersten Moment eine Erleichterung, da ich zu meinem sozialen Vater kein gutes Verhältnis hatte.
Oft hören wir auch, dass Geschwister ganz anders reagieren und sich mit der Neuigkeit entweder gar nicht beschäftigen möchten oder kein Interesse am genetischen Vater oder Halbgeschwistern äußern. Manche Spenderkinder spüren eher Wut, andere eher Verständnis für die Entscheidungen ihrer Eltern.
Wichtig ist, dass alle Gefühle berechtigt sind. Es ist okay, schockiert, beunruhigt oder wütend zu sein, und umgekehrt ist es genauso okay, wenn man all dies nicht ist. Gefühle sind einfach da, und man sollte sie erst einmal zulassen und erforschen. Es können auch ganz unterschiedliche Gefühle gleichzeitig oder kurz nacheinander auftreten. Das kann ganz schön verwirrend sein.
Es kommt öfters vor, dass Menschen aus dem näheren Umfeld eine bestimmte Reaktion erwarten oder erhoffen. Oft sind das die Eltern, die nicht mit negativen Gefühlen wie Wut, Enttäuschung oder Trauer konfrontiert werden möchten. Es können aber auch Freunde oder Bekannte sein, die (vielleicht auch auf Grund ihrer eigenen Erfahrungen) den Eindruck entstehen lassen, die Gefühle des Spenderkindes zu bewerten oder relativieren (siehe hierzu unseren Beitrag 12 Bemerkungen, die Spenderkinder nerven).
2. Gib Dir selbst Zeit
Allen frisch aufgeklärten Spenderkindern, die diese Neuigkeit als Schock empfinden, raten wir vor allem, sich selbst Zeit zu geben. Manche Spenderkinder können sich in den ersten Wochen danach kaum auf etwas anderes konzentrieren.Die Gedanken schwirren im Kreis, und wenn sie kurz abgelenkt werden, trifft es sie nachher wieder wie ein Schlag. Manche haben das Gefühl, viele ihrer Erinnerungen an ihre Kindheit neu bewerten zu müssen, was sehr herausfordernd sein kann. Oder sie müssen überlegen, wie sie in Zukunft damit umgehen werden und fühlen sich davon überfordert.
Ich habe mich am Anfang gefühlt, als hätte man mich in einer Nussschale im Meer ausgesetzt.
Ich hatte eine schwierige Zeit, litt an Depressionen und Panikattacken.
Die ersten Tage waren ein Albtraum für mich. Meine Identität schien für mich zuvor gefestigt, seit ich selber Mama geworden bin noch mehr. Ich habe mich vom Kindsein eigentlich seit 15 Jahren gelöst. Jetzt bin ich wieder komplett im Kind-Ich drin und es fällt mir schwer, die Stabilität zurück zu gewinnen, die ich für meine eigene Familie brauche.
Ich habe mit 28 herausgefunden, woher ich komme und es war eine Sache, die so sehr an meinen Grundfesten gerüttelt hat, etwas, was viel zu groß war, es in den ersten Jahren zu begreifen – ich war in zwei Psychotherapie-Kliniken. Wir haben zusammen insgesamt fünf Jahre für die Verarbeitung gebraucht.
Es kann einige Zeit dauern, bis man die Tatsache verarbeiten kann, einen unbekannten genetischen Vater zu haben und von den Eltern hierüber lange Zeit im Unklaren gelassen oder aktiv belogen worden zu sein. Es wird nach einer Zeit aber auf jeden Fall einfacher und nach einigen Jahren wird es vermutlich einfach ein Puzzlestück Deiner Identität sein – wie groß, entscheidest Du selbst.
Mit der Zeit wurde meine Entstehung durch eine Samenspende ein normaler Teil meiner Geschichte, über den ich manchmal mehr, manchmal weniger nachgedacht habe.
Außerdem ist es gut möglich, dass Deine Gefühle sich über die Zeit noch verändern. Manche Spenderkinder interessieren sich zum Beispiel erst für ihre Abstammung, wenn sie selbst Kinder bekommen. Andere finden das Konzept einer Samen“spende“ möglicherweise anfangs unproblematisch und lehnen es später nach intensiverer Beschäftigung mit dem Thema eher ab (oder umgekehrt).
3. Finde heraus, was Du möchtest und was Dir gut tut
Du bist für Dich selbst die wichtigste Person – daher solltest Du herausfinden, was Du selbst möchtest und was Dir gut tut.
Das kann zum einen der Umgang mit Deiner Zeugungsart sein.Viele Spenderkinder sind auch nach ihrer Aufklärung noch sehr davon beeinflusst, wie ihre Eltern sich fühlen oder wie andere Menschen aus ihrem sozialen Umkreis ihre Situation einschätzen. So sagen manche Spenderkinder im Nachhinein, dass sie sich anfangs nicht eingestehen wollten, dass sie sich für ihren genetischen Vater oder Halbgeschwister interessieren, weil sie Angst hatten, ihre Eltern zu verletzen oder zu beunruhigen. Vielleicht möchtest Du offen mit Deiner Zeugungsart umgehen und nicht mit einem Geheimnis leben.
Ich würde das Geheimnis nicht mehr so viele Jahre wahren, weil meine Eltern es von mir verlangen. Ich würde viel früher mit anderen darüber reden und mich nicht mehr von relativierenden Vergleichen von anderen verunsichern lassen. Ich würde sehr viel selbstbewusster damit umgehen.
Ich würde jedem empfehlen, der aufgrund seiner Familienangehörigen nicht darüber spricht und das Geheimnis für sich behält und selber daran zerbricht, es einfach zu tun. Egal in welcher Form, ob es öffentlich ist, Freunden davon zu erzählen oder es einfach niederzuschreiben. Einfach machen.
Vielleicht hast Du aber auch das Gefühl, dass Du gerade keine Kraft hast, Dich mit Deiner Abstammung und Deiner Familiensituation auseinanderzusetzen – dann musst Du das auch nicht tun. Manchmal braucht man auch einfach mal eine Pause. Du musst Dich auch nicht mit Deinen Eltern auseinandersetzen, wenn Du dazu keine Kraft hast. Es gibt Spenderkinder, die den Kontakt zu ihren Eltern erst einmal abgebrochen haben, weil sie Zeit für die Verarbeitung brauchten. Anderen liegt viel daran, die Situation zusammen mit ihren Eltern zu klären.
Helfen können auch bestimmte Herangehensweisen:
Mir hat geholfen, meine Gedanken aufzuschreiben, weil ich meine Gefühle dafür ordnen und genauer benennen und erklären musste. Und danach waren sie auf Papier gebannt (bzw. in einer Datei) und nicht mehr ganz so quälend.
Wir haben uns ein White board besorgt, das hängt jetzt an unserer Familienfotowand. Mein genetischer Vater hat einen Namen erhalten (Papa/Opa Otto) und auf dem white board tragen wir mit abwaschbarem Stift alle Eigenschaften ein, die wir an uns feststellen und von denen wir glauben, dass sie von „Otto“ stammen könnten. So ist Papa/Opa Otto sehr flexibel und ein bißchen auch unser „Eigenartenmülleimer“, aber auch das hilft mir sehr.
Wenn Du empathische Partner, Freunde, Familienangehörige hast, sprich mit ihnen darüber. Wenn Du merkst, dass Deine Gefühle nicht ernst genommen werden, lass dich dadurch nicht runterziehen oder verunsichern, sondern umgib Dich mit Menschen, die Dir gut tun. Viele Spenderkinder haben vor allem den Kontakt zu anderen Betroffenen als besonders hilfreich empfunden (siehe 4.).
Ich spreche viel mit meiner Familie und mit meinen Kindern darüber, sie haben eine wunderbar natürliche Art, damit umzugehen.
Am meisten geholfen haben mir Interviews mit Journalisten, die ernsthaftes Interesse an meinen Gefühlen hatten, ohne sie dabei zu relativieren oder zu bewerten.
Nicht zuletzt kann auch Hilfe von außen durch eine Behandlung bei einem Psychotherapeuten helfen. Die Kosten für eine Psychotherapie (Verhaltenstherapie, tiefenpsychologische oder psychoanalytische Therapie) werden in der Regel von der Krankenkasse übernommen. Voraussetzung dafür ist, dass eine krankheitswertige Störung vorliegt, z.B. eine Anpassungsstörung und die Therapeutin/der Therapeut mit der Krankenkasse abrechnen kann. Du kannst unverbindlich eine psychotherapeutische Sprechstunde wahrnehmen, um diese Punkte abzuklären. Gerade weil es in einer Psychotherapie um ganz persönliche Themen geht, ist es wichtig, dass “die Chemie” stimmt. Du kannst bei mehreren Psychotherapeut*innen in die Sprechstunde gehen und dann spüren, wo Du Dich am besten aufgehoben fühlst. Leider ist es auch im professionellen Kontakt in Einzelfällen vorgekommen, dass Spenderkinder das Gefühl hatten, dass ihre Gefühle relativiert werden. Daher kann es sinnvoll sein, wenn der oder die Beratenden schon Adoptierte oder im Kontext von Familiengeheimnissen beraten hat.
4. Du bist nicht alleine
Manche amerikanischen Spenderkinder sagen zur Begrüßung: „Welcome to the club nobody wanted to join!“ Als Trost ist es ein ziemlich netter Club, in dem Du viel Unterstützung finden kannst. Du bist nicht alleine mit Deiner Zeugungsart. Egal ob es rechtliche Probleme sind, Fragen bei der Recherche in DNA-Datenbanken oder solche zum Umgang mit den Eltern – vermutlich wird Dir jemand helfen können oder zumindest interessante Anregungen oder eine andere Perspektive geben können.
Heute würde ich mich direkt auf die Suche begeben und bei den Spenderkindern melden. Es war wichtig zu wissen dass ich nicht alleine bin und meine Mutter nicht die einzige Mutter ist, die mit diesem Thema große Schwierigkeiten hatte.
Was mir hilft: reden, reden, reden. Dann hilft mir der Spenderverein sehr, hier habe ich das Gefühl, dass man mein Durcheinander versteht.
Ich würde mich immer wieder sofort beim Spenderkinderverein melden. Der Kontakt mit anderen Spenderkindern war unglaublich hilfreich.
Mir hat natürlich der Verein generell ganz arg geholfen. Während in meinem privaten Umfeld viele mit Floskeln reagiert haben, mit denen ich nicht viel anfangen konnte, habe ich hier mit Menschen zu tun, durch die ich eine Legitimation dafür bekommen habe, mich so zu fühlen, wie ich es tue.
Deshalb ist das der bisher einzige Tipp, den ich anderen geben würde – sehr frühzeitig (von Beginn an) Kontakt zu anderen Spenderkindern zu pflegen.
Der Kontakt zu anderen Spenderkindern hat mir sehr weitergeholfen – ich fühlte mich nicht mehr alleine. Mein erstes Treffen mit einem anderen Spenderkind werde ich nicht vergessen. Und ich finde auch nach 13 Jahren immer noch faszinierend, wie viele Gemeinsamkeiten es bei allen Unterschieden zwischen uns gibt.
Außer unserem Verein gibt es die sehr aktive internationale Gruppe „We are donor conceived“ auf Facebook (auf Englisch).
Die Erfahrungsberichte von Spenderkindern auf unserer Internetseite und die Medienberichte über unsere Mitglieder (siehe Links) geben einen guten Überblick darüber, wie unterschiedlich Spenderkinder mit ihrer Situation umgehen. Empfehlenswert ist auch das Buch “Spenderkinder” von Wolfgang Oelsner und Gerd Lehmkuhl (Rezension) sowie das Buch “Inheritance” der US-amerikanischen Schriftstellerin Dani Shapiro, die im Alter von fast 50 Jahren durch einen DNA Test entdeckte, dass sie ein Spenderkind ist (bislang leider nur auf Englisch erschienen).
5. Du kannst die Nadel im Heuhaufen finden
Wenn Du wissen möchtest, wer Dein genetischer Vater ist oder ob Du Halbgeschwister hast, denkst Du vielleicht, dass Du vor einer Suche nach der Nadel im Heuhaufen stehst. Das war bis vor wenigen Jahren tatsächlich so – inzwischen sind die Chancen aber durch die modernen DNA-Datenbanken recht gut, dass Du Halbgeschwister oder Deinen genetischen Vater finden wirst (siehe Verwandtensuche mit DNA-Datenbanken). Vielleicht nicht sofort, aber womöglich nach einiger Zeit. Außerdem ist in Deutschland inzwischen höchstrichterlich geklärt, dass Spenderkinder ein Recht auf Kenntnis ihrer Abstammung haben. Inzwischen haben daher auch einige unserer Mitglieder Auskunft von dem behandelnden Arzt oder der behandelnden Ärztin ihrer Eltern erhalten. Aus unserem Verein haben inzwischen mehr als 30 Spenderkinder erfahren, wer ihr genetischer Vater ist, und es haben sich 45 Halbgeschwistergruppen gefunden (Stand Juni 2020).
6. Wenn das Leben Dir Zitronen gibt, mach Limonade draus
Es kann eine große Herausforderung darstellen, ein Familiengeheimnis über die eigene Abstammung erst als Erwachsener herauszufinden. Aber Menschen können an Krisen wachsen. Auch wenn Du erst einmal eine sehr schwierige Zeit hast, kannst Du diese Erfahrung vielleicht in etwas Positives umwandeln. Das kann zum Beispiel a) die Gewissheit sein, dass Du auch solche Erschütterungen verkraftest, b) die Möglichkeit, die Beziehung zu den Eltern neu zu gestalten, c) mehr Empathie, Engagement, Kontakt zu interessanten Menschen, die Du sonst nie getroffen hättest, oder d) ein tieferes Verhältnis zu Menschen, die Dir etwas bedeuten, oder e) die Erweiterung ihrer Familie oder f) etwas ganz anderes, an das man nicht direkt denkt.
Es war nicht schön, so spät von meiner Zeugung durch eine Samenspende zu erfahren, aber ich wäre glaube ich ein ganz anderer Mensch, wenn das nicht passiert wäre. Ich habe in den letzten vierzehn Jahren viele tolle Menschen deswegen kennengelernt. Außerdem habe ich mich mit so vielen auch unangenehmen Gefühlen auseinandergesetzt, dass ich daran als Person gewachsen bin. Deswegen schätze ich alles im Nachhinein doch als etwas Gutes ein.
Es hat mich so sehr befreit, die Wahrheit zu erfahren, das ist mit Worten nicht zu beschreiben. Es war als wenn ich in tiefes klares Wasser schaue, bis zu meinem Ursprung hin und endlich sehe ich, was da ist. Es war ein Gefühl, als dürfte ich endlich aus einem Gefängnis gehen, in dem ich mich so lange befunden hatte. Endlich die Türen auf, endlich alles richtig und stimmig, endlich frei in mein ganzes Leben zu gehen.
Könnte ich mir einen Brief in die Vergangenheit schicken, würde ich mir gerne sagen: „Entspann Dich mal, denn alles wird gut, am Ende findest Du Dich selbst in einer Klarheit, die es mit der Lüge nie gegeben hätte“!
Viele Spenderkinder haben sich über das Finden von Halbgeschwistern oder ihres genetischen Vaters gefreut, einige so sehr, dass es sie mit ihrer Zeugungsart versöhnt hat.
Ich hatte Glück, meinen Vater finden zu dürfen und konnte somit meine Geschichte und auch die meiner Familie heilen.