Andrea

Dass Spenderkinder möglichst früh über ihre Herkunft informiert werdensollten, ist nicht nur dem Kindeswohl zuträglich, sondern es nimmt auch den Eltern die manchmal sehr schwere Bürde des Geheimnisses, das sie mit sich herumtragen.

Unsere Tochter war knapp 23 Jahre alt, als wir sie über die Spende aufgeklärt haben. Ich möchte mit diesem Erfahrungsbericht insbesondere den Eltern Mut machen, die – aus welchen Gründen auch immer – den „perfekten“ Zeitpunkt für die Aufklärung ihres Kindes verpasst haben.

Warum so spät?

Warum haben wir unsere Tochter so spät informiert? Zu dem Zeitpunkt, als unsere Tochter gezeugt wurde, war die klare Aussage meines Gynäkologen (und wohl auch allgemeine Empfehlung zu der Zeit) „Es ist weder nötig noch sinnvoll, das Kind – so wie z. B. ein adoptiertes Kind – aufzuklären. Beim Spender wird auf grundlegende Ähnlichkeit mit dem juristischen Vater geachtet, so dass es eine völlig unnötige Komplikation darstellt, wenn das Kind über die Spende informiert wird.“ So weit, so eindeutig. Dass sich die Haltung im Hinblick auf die Aufklärung des Kindes geändert hat, wurde mir erst bekannt, als unsere Tochter ca. 16 Jahre alt war. Mein (zu dem Zeitpunkt bereits) Exmann sagte mir, er wolle unsere Tochter informieren, allerdings wohl besser erst nach der Pubertät.

Kurz vor ihrem 23. Geburtstag haben wir unsere Tochter dann über die Spende aufgeklärt. Wir haben ihr beide so offen und so umfassend wie möglich die Umstände zum Zeitpunkt unseres Kinderwunsches erklärt. Wir haben ihr die Gefühle und Gedanken beschrieben, als wir erfahren haben, dass ihr Vater keine leiblichen Kinder haben kann, wir haben ihr deutlich gemacht, dass sie ein wirkliches Wunschkind ist (was natürlich bei allen DI-Kindern zutrifft, aber man darf es ruhig öfter sagen!). Wir haben ihr gesagt, wie froh wir waren, als sie unterwegs war, und wie glücklich, als sie geboren wurde. Auch, warum wir sie nicht früher aufgeklärt haben. Ich habe ihr erklärt, dass sie jedes Recht auf jedes Gefühl, jede Frage und jede Reaktion hat, weil nur sie weiß, wie man sich mit solch einer Neuigkeit fühlt.

Die Reaktion

Unsere Tochter hat toll reagiert. Sie hat sich, wie sie mir später sagte, zwei Tage „wie in Trance“ oder wie in einem falschen Film gefühlt. Sie hat die ganze Angelegenheit am selben Abend noch mit ihrer besten Freundin bequatscht. Sie hat sich nicht krankschreiben lassen, sondern ist am nächsten Morgen zu ihrem Chef gegangen und hat ihm erklärt, er solle sich nicht wundern, wenn sie zwischendurch mal zum Heulen verschwindet, und ihm den Grund dafür gesagt.

Insgesamt hat sie für sich zunächst den Weg gewählt, damit relativ offen umzugehen, und es hat ihr sehr geholfen, über verschiedene Aspekte und Fragen mit verschiedenen Menschen zu sprechen. Und manchmal sind dafür eben die eigenen Eltern nicht die idealen Gesprächspartner. Ihr Kontakt zu ihrem sozialen Vater ist übrigens seitdem intensiver geworden.

Interessanterweise hat sie gleich am Anfang etwas angesprochen, das wohl häufig vorkommt. Sie sagte, sie hätte schon früher gedacht, dass irgendetwas nicht stimmen könnte, weil sie so gar nichts von der Familie ihres Vaters hat. Als Kind hatte sie mich mal gefragt, ob sie adoptiert sei. Und nun konnte ich ihr bestätigen, dass sie sich auf ihr Gefühl verlassen kann. Das ist für mich überhaupt einer der wichtigsten Gründe für eine Aufklärung des Kindes, egal wie spät: ein winziges Körnchen der Unsicherheit, dass man etwas „nicht richtig Passendes“ wahrnimmt, es aber nicht greifen und erklären kann, kann das ganze Leben schwer belasten. Aber genauso sicher ist es, dass diese Last vom Kind genommen wird, wenn es weiß, was nicht gepasst hat. Und es ist nie zu spät, dem Kind diese Last zu nehmen.

Der genetische Vater

Manchmal kommt der Wunsch meiner Tochter zur Sprache, dass sie schon gern wüsste, wie ihr genetischer Vater aussieht. Sie möchte wissen, ob sie ihm ähnlich sieht. Das wird sich wahrscheinlich nicht machen lassen. Aber vor kurzem hat sie über einen DNA-Test Kontakt zu genetischen Halbgeschwistern aufgenommen, und ich glaube, das tut ihr gut.
Es ist nie zu spät für die Aufklärung des Kindes

Mir ist schon am Tag, als wir unsere Tochter aufgeklärt haben, der Mühlstein des Verheimlichens vom Hals gefallen. Eltern von älteren, nicht informierten Kindern werden nachempfinden können, wie unendlich schwer dieser Mühlstein sein kann, wie sehr er das Verhältnis zum Kind überschatten kann. Und das Kind hat keine Möglichkeit, herauszufinden, warum seine Eltern manchmal komisch reagieren.

Es kann auch in Zukunft verschiedene Gründe geben, warum Eltern ihr Kind über die DI nicht so früh aufklären, wie es ideal wäre: das kann eine frühe Trennung der Eltern sein, schwere Erkrankungen von Eltern oder Kind oder große andere Krisen für die Familie (und die Eltern wollen in der Situation nicht „noch eine“ Belastung für das Kind schaffen). Diese Eltern sollten sich abernicht in Schuldgefühlen über das „zu spät“ vergraben, sondern den Schritt auf das Kind zumachen, sobald sie können. Den perfekten Zeitpunkt, wenn das Kind erst einmal älter ist, gibt es nicht. Es lässt sich immer ein Grund finden, warum es mit der Aufklärung gerade jetzt nicht passt, sondern vielleicht besser in einigen Monaten oder im nächsten Jahr. Macht euch frei von diesem Hintertürchen! Es gibt sehr, sehr wenige Gründe, die Aufklärung aus einem konkreten Grund aufzuschieben – sie muss vielleicht nicht gerade am Tag vor der Führerscheinprüfung oder während der Abiturklausuren stattfinden…
Aber abgesehen von solchen wirklichen Ausnahmefällen: Jeder Tag früher, den ihr euer erwachsenes Kind informiert, ist gut! Egal, ob das Kind 20, 27 oder 36 Jahre alt ist! Ihr könnt die Reaktion eures Kindes nicht vorhersagen. Aber ihr könnt sicher vorhersagen, dass dann ein Geheimnis weniger über eurem Kind (und damit zwischen euch und eurem Kind) hängt!