Das englischsprachige Buch „The Lost Family“ von Libby Copeland ist ein faszinierendes Buch über DNA-Datenbanken (wie Ancestry, Family Finder, 23andme und MyHeritageDNA) und wie diese Familienbeziehungen auf eine bislang unbekannte Art auf den Kopf stellen. Indem die Tests ihren Teilnehmern bislang unbekannte Informationen über die eigene Abstammung zeigen, werden auch Geheimnisse enthüllt wie Unfruchtbarkeit, unehelich zur Welt gebrachte Kinder, uneheliche Beziehungen, sexuelle Gewalt oder eine geheim gehaltene ethnische Zugehörigkeit.
Anhand der Geschichte von Alice Plebusch, einer siebzigjährigen Frau, die mit Erstaunen feststellte, dass Ancestry ihr einen beträchtlichen Anteil jüdischer DNA auswies, werden verschiedene, mit DNA-Datenbanken verbundene Themen diskutiert und anhand weiterer persönlicher Geschichten illustriert – von Adoptierten, Findelkindern, Kuckuckskindern, Spenderkindern und andere Menschen die einen anderen Elternteil hatten als sie annahmen (auf englisch wird dies als NPE beschrieben – „Not Parent Expected“).
Die Suchenden, die Unwissenden und
die Gefundenen
Libby Copeland teilt die von den Tests
betroffenen Menschen in 3 Gruppen ein: Genealogiker, Suchende
(Adoptierte, Spenderkinder, Kuckuckskinder und andere Personen, die
Zweifel an ihrer Abstammung haben) und bislang Unwissende. Die letzte
Gruppe nimmt an den DNA-Tests oft teil, weil sie diese als Geschenk
erhält oder denkt, dass sich die Tests interessant anhören, weil
man damit Informationen über ihre allgemeine ethnische Abstammung
erhält – zum Beispiel, welcher Anteil der eigenen Vorfahren aus
Irland kommt oder ob die Familiengeschichten über indianische
Vorfahren stimmen. Das Interesse hieran ist insbesondere in den USA
sehr groß, da die USA eine Einwanderungsgesellschaft sind und die
Zugehörigkeit zu den verschiedenen Einwanderergruppen und
Subkulturen eine große Bedeutung besitzt.
Vielen Unwissenden ist dabei nicht bewusst, dass sie über den Test auch nähere Verwandte finden können oder von ihnen gefunden werden können – und wer weiß schon Bescheid, ob der Vater früher seinen Samen verkauft hat oder eine Affäre hatte? Inzwischen warnen die DNA-Datenbanken sogar ausdrücklich vor diesen Folgen – aber vermutlich denkt niemand, dass sie selbst davon betroffen sein könnten. Ancestry hat in den USA daher ein Team, dass sich besonders um Menschen kümmert, die ein unerwartetes Testergebnis erhalten. Da Kunden mit unerwarteten Testergebnissen den Test oft für falsch halten, bietet FamilyTreeDNA standardmäßig einen zweiten Test für die Hälfte des Geldes an und verspricht, das Geld zurückzuerstatten, wenn der erste Test falsch war. Es komme fast nie vor, dass der Test fehlerhaft sei.
Manche der Unwissenden forschen nach, andere lassen die Testergebnisse „wie eine zufällig am Strand entdeckte Granate“ liegen. Die Testergebnisse führen zum Teil dazu, dass Menschen mit lange zurückliegenden Ereignissen und damit verbundenen schmerzhaften Gefühlen konfrontiert werden oder diese erst entdecken. Vielen Spenderkindern, Adoptierten und Kuckuckskindern wurde nicht die Wahrheit über ihre Entstehungsweise gesagt. Einige Männer erfahren als Sechzigjährige, dass sie als junge Männer ein Kind gezeugt haben und fühlen sich, als hätten sie ihr Kind verlassen. Ehemalige Samen“spender“ entdecken, dass sehr viele Kinder mit ihrem Samen gezeugt wurden, manche Spenderkinder erfahren, dass sie möglicherweise mehr als 100 Halbgeschwister haben. Fünfzigjährige müssen sich damit auseinandersetzen, dass ihre bereits verstorbene Mutter ein Kind ausgesetzt oder zur Adoption freigegeben hat. Andere fanden schmerzhafte Erklärungen für ihre Abstammung wie Inzest oder Vergewaltigung. Von diesen Informationen betroffen sind meistens nicht nur die unmittelbaren Verwandten, sondern ihre ganze Familie. Erfährt ein Mann, dass er vor Jahrzehnten ein Kind in einer Affäre gezeugt hat, wird vermutlich auch seine Frau von der Untreue erfahren wird und seine ehelichen Kinder, weil sie Halbgeschwister haben.
Ob die Gefundenen offen oder mit
Zurückweisung reagieren, kann nicht vorhergesagt werden. Mache
reagieren abweisend und sehen die neuen Verwandten als Eindringlinge,
andere Gefundene freuen sich dagegen, weil für sie mehr Verwandte
mehr Liebe bedeuten. Eine Betroffene vergleicht es mit russischem
Roulette, eine andere rät: Rechne mit dem Schlimmsten und hoffe auf
das Beste! Für viele Suchende, die sich falsch in ihrer Familie
gefühlt haben, kann Desinteresse oder Zurückweisung ihrer
genetischen Verwandten sehr schmerzhaft sein. Das Buch erzählt
Geschichten von Zurückweisung, bei denen man die Betroffenen am
liebsten in den Arm nehmen möchte – und von herzlichen Aufnahmen,
die einem Tränen der Rührung in die Augen steigen lassen. Genauso
berührend sind die Geschichten, bei denen die Tests enthüllten,
dass die Betroffenen entgegen ihrer vorherigen Annahme nicht verwandt
waren – und dennoch entschieden, sich emotional weiterhin als
Verwandte zu sehen. Wie eine Betroffene meint: DNA ist nicht Liebe.
Auch bei gegenseitiger Freude über die
Familienerweiterung wird teilweise von Schmerz darüber begleitet,
dass man viele Jahre in Unwissenheit lebte und diese Zeit nicht
miteinander verbringen konnte. Manche Verwandte wuchsen wenige
Kilometer voneinander entfernt auf. Vielen stellt sich die Frage:
wäre ich ein anderer Mensch, wenn ich es früher gewusst hätte?
Die Datenbanken
Da der Verein Spenderkinder den Test Family Finder von Family Tree DNA zur Verwandtensuche nutzt, aber die Registrierung in allen großen Datenbanken empfiehlt, fand ich die Interviews mit den Gründern bzw. Leitern der Tests besonders spannend.
Family Tree DNA wurde primär aus
genealogischem Interesse im Jahr 2000 gegründet. Mit nur rund 150
Angestellten ist das in Houston sitzende Unternehmen immer noch
relativ klein. Bei den autosomalen DNA-Tests handelte es sich
zunächst um ein Nischenprodukt, erst im Jahr 2013 wurde die Marke
von mehr als einer Million verkaufter Tests überschritten. Bereits
in der Testphase vor Verkaufsbeginn fanden die Testpersonen
unerwartete Ergebnisse in ihrer Abstammung – man wusste also, was
passieren könnte. Gründer Bennett Greenspan sagt dazu, er sei kein
Ethiker, es würde immer jemand verletzt werden – der Suchende, dem
Informationen über seine Abstammung vorenthalten werden, oder dem
Gefundenen, der möglicherweise nicht gefunden werden möchte. Er
bezeichnet den Begriff „anonymer Samenspender“ als Oxymoron wie
„Jumbo Shrimp“ und rät scherzhaft Großeltern, ihren Enkelsöhnen
Geld für Bier zu schicken, damit die jungen Männer von heute nicht
ihr Sperma verkaufen müssten, damit nicht in zwanzig Jahren jemand
an ihre Tür klopft und sie „Dad“ nennt.
23andme wurde im Jahr 2006 gegründet. Die Erfolgsgeschichte des Unternehmens begann mit dem Angebot des ersten autosomalen DNA-Tests im Jahr 2009, der damals noch stolze 999 USD kostete. Die Datenbank ist auf die DNA-Analyse von Gesundheitsanlagen spezialisiert (die aber überwiegend nur auf Vermutungen beruhen, da der Einfluss der Gene auf viele Krankheiten noch nicht ausreichend geklärt ist). Daher hat das Unternehmen Forschungskooperationen mit mehreren Unternehmen, die Zugriff auf anonymisierte DNA-Daten haben. Die Kunden können sich gegen eine Teilnahme entscheiden oder aber durch zusätzliche Informationen über ihre Gesundheit die Kooperationen fördern.
Ancestry sitzt in Lehi, Utah und ist inzwischen die größte DNA-Datenbank. Das im Jahr 1996 gegründete Unternehmen bot zunächst lediglich den Zugang zu historischen Dokumenten für die Ahnenforschung an. Erst ab 2012 wurden zusätzlich autosomale DNA-Tests aufgenommen. Das Geschäftsmodell ist (wie bei MyHeritageDNA) die Kombination von autosomalen DNA Tests und Abonnements für Datenbanken mit historischen Dokumenten. Inzwischen ist es mit mehr als 15 Millionen Teilnehmern die größte DNA-Datenbank.
Zusammensetzung der Abstammung
Alle großen DNA-Datenbanken bieten die Funktion an, die Zusammensetzung der Abstammung einzuschätzen (in Form der regionalen Herkunft). Während die Einschätzung noch 2012 auf einer relativ geringen Datenbasis erfolgte, ist sie inzwischen manchmal sehr genau. Allerdings kommt es sehr auf die Größe der jeweiligen Referenzgruppe bei der jeweiligen Datenbank an. So konnte die regionale Abstammung aus Afrika lange nur sehr ungenau zugewiesen werden. Die Resultate können sich zwischen den Datenbanken zudem erheblich unterscheiden, da jede Datenbank einen anderen Algorithmus verwendet.
Die Abstammungsschätzung ist eine sehr
beliebte Funktion und wird daher als Werbung verwendet: So warb
23andme bei der Fußball WM, dass man anhand der eigenen ethischen
Herkunft ein Team unterstützen sollte (Root for your roots). Um die
Olympischen Winterspiele 2018 herum warb Ancestry mit einer
Eiskunstläuferin, bei der ihre ethnische Abstammung mit kulturellen
Stereotypen in Zusammenhang gebracht wurde (48 % Skandinavien für
die Präzision, 27 % Zentralasien für die Grazie, 21 %
Großbritannien für ihren Ehrgeiz).
Diese Funktion wird zum Teil kritisiert, da es bei Menschen die Vorstellung hervorrufen oder verstärken könnte, dass Rassen oder Ethnien genetisch bedingt sind und zu erheblichen Unterschieden führen, während die Wissenschaft Ethnie vor allem als soziales oder gesellschaftliches Konzept sieht. Andere erhoffen eine gegenteilige Wirkung: weil die meisten Menschen von verschiedenen Orten in der ganzen Welt abstammen, könnten sie sehen, dass Rassismus keine wissenschaftliche Basis besitzt.
Ein anderer Kritikpunkt ist, dass die
Teilnehmer die Schätzung oft falsch verstehen oder als die Antwort
für Fragen nach ihrer Identität werten. Aber nur weil die DNA zu 5
% auf Irland zurückverfolgt werden kann, bedeutet dies nicht, dass
die näheren Vorfahren aus Irland kamen. Interessant ist, dass die
Ergebnisse oft selektiv interpretiert werden: vor allem weiße
Teilnehmer empfinden einen geringen Teil nicht-europäischer
Abstammung als positiv.
Und manchmal erschüttern die Ergebnisse der Ethnizitätsschätzung die Identität: Libby Copeland erzählt die Geschichte von einem Mann, der mit einem DNA Test feststellte, dass sein eher dunkles Aussehen nicht wie gedacht auf eine südeuropäische Abstammung zurückzuführen ist, sondern dass seine Mutter einen afro-amerikanischen Vater hatte und sie aus einer verbotenen gemischten Beziehung stammte. Bei Afro-Amerikanern kommt es vor, dass sie einen Teil europäischer DNA entdecken (oder Weiße als entfernte Verwandte), weil Sklavenhalter nicht selten ihre Sklavinnen vergewaltigten.
Bei vielen Ethnien oder Gruppen stellt sich zudem die Frage, ob diese genetisch oder kulturell begründet sind und was eine Zugehörigkeit der DNA zu diesen Gruppen bedeutet. Wenn jemand in dem Glauben aufwächst, italienischer Abstammung zu sein, aber tatsächlich afro-amerikanischer Abstammung ist, was ist dann „echt“? Kann man sich jüdisch fühlen, wenn man nicht mit der Kultur aufgewachsen ist? Kann man sich „schwarz“ fühlen, wenn man nie die Erfahrung der entsprechenden Diskriminierung gemacht hat? Und wer entscheidet dies? So sehen es wohl insbesondere die amerikanischen Ureinwohner kritisch, wenn sich Menschen auf Grund indianischer DNA als „Native Americans“ bezeichnen..
Datenschutz
Da DNA-Daten Auskunft über
Verwandtschaftsbeziehungen und Krankheitsanlagen geben können, sind
sie natürlich besonders sensibel. Daher bestehen Bedenken, dass die
DNA-Datenbanken als private Unternehmen über solche Daten verfügen
oder dass Dritte Zugriff auf diese Daten erhalten könnten. So gab es
im Jahr 2018 eine Sicherheitslücke bei MyHeritageDNA, bei der viele
Kundendaten entwendet wurde, allerdings keine DNA-Daten. Bedenken
bestehen insbesondere, dass Menschen bei Bekanntwerden bestimmter
Krankheitsanlagen keine Versicherungen mehr erhalten könnten. Andere meinen dagegen, dass Informationen, die viele
Menschen über soziale Netzwerke wie Facebook oder Kundenkarten
weitergeben, mehr über sie verraten als ihre DNA.
Kritisch wird bei den DNA-Datenbanken
gesehen, dass die Daten teilweise anonymisiert für
Forschungskooperationen mit Unternehmen verwendet werden. Manche
begrüßen diesen Aspekt auf der anderen Seite und helfen den
Unternehmen durch zusätzliche Auskünfte über ihren
Gesundheitszustand bei der Interpretation der DNA-Daten.
Dass die Daten in zunehmendem Maße zur Identifikation Dritter verwendet werden, ist nicht nur für Menschen nützlich, die Familienmitglieder aus emotionalen Gründen suchen, sondern auch für Strafverfolger. Nach einem Paper von Yaniv Erlich u.a. ist es mit den genetischen Daten von 1,28 Millionen Menschen möglich, für 60 % der Amerikaner mit europäischen Wurzeln einen Cousin dritten Grades oder näher zu finden. Ancestry hat im Jahr 2020 schon mehr als 15 Millionen Teilnehmer. Das bedeutet, dass inzwischen alle Amerikaner potentiell mit ein bisschen Recherche identifiziert werden können. Das nutzen inzwischen auch Strafverfolgungsbehörden wie das FBI, die hierdurch einige Jahrzehnte lang ungelöste Mordserien aufklären konnten. Das bedeutet, dass man durch die eigene Registrierung möglicherweise seine Angehörigen dem Risiko der Strafverfolgung aussetzt. Auch dieser Aspekt wird von anderen begrüßt, wenn er sich auf schwere Verbrechen bezieht. Trotzdem stellt sich natürlich die Frage, was unterdrückerische Regimes mit diesen Daten anfangen könnten. Es gibt daher bereits Vermutungen, dass die Nachfrage nach DNA-Test wegen Datenschutzbedenken nachlässt.
Unbedingt lesen!
Jeder, der sich für die Entwicklung
von Verwandtensuche und die soziale Bedeutung von DNA-Datenbanken
interessiert, sollte das Buch unbedingt lesen. Es enthält eine
beeindruckende Mischung aus Fakten und emotional berührenden
Geschichten und war auch beim zweiten Lesen für diese Besprechung
immer noch faszinierend.
Obwohl nur wenige Geschichten von
Spenderkindern vorkommen, berühren viele der Fragen und Themen auch
unsere eigenen Erfahrungen und zeigen, dass wir damit nicht alleine
sind.
Leider gibt es das Buch derzeit noch
nicht als deutsche Übersetzung. Da die DNA-Datenbanken jedoch auch
in Deutschland immer mehr Teilnehmer bekommen, wird sich das
Bedürfnis nach einem Buch, das diese Geschichten erzählt und Themen
diskutiert, sehr bald auch in Deutschland zeigen.