Im November 2020 erschien das Kinderbuch „Ich bin ein Kinderwunsch-Wunschkind“, gedacht als Erzähl- und Erklärbuch für Kinder, von Ruthild Schulze. Das Buch soll Eltern dabei unterstützen, ihre Kinder über ihre Entstehung durch In-vitro-Fertilisation (IVF) aufzuklären. In Form eines Kinderbuchs wird die IVF, in eine Geschichte eingebettet, kindgerecht erklärt. Weitere Begriffe um Zeugung, Schwangerschaft und Geburt werden für Kinder in einem Glossar beschrieben. Viele Bilder veranschaulichen die Situationen und Vorgänge.
Die Geschichte
Hauptfigur ist der 8jährige Jann. Er erzählt, wie er davon
erfuhr, durch eine IVF entstanden zu sein und was das für ihn bedeutet. Seine
jüngere Schwester wurde spontan auf natürlichem Weg gezeugt. Eine Hebamme erklärte
in Janns Schulklasse anschaulich ihre Arbeit. Natürlich weiß Jann längst wie
Kinder entstehen und greift den sexuellen Akt im Buch nur kurz auf.
Dann erzählt Jann, wie er erfahren hat, dass er durch eine
IVF entstanden ist. Nachdem er seiner Mutter von dem Hebammenbesuch in der
Schule erzählt hatte, spürte er, dass sie ihm etwas erzählen möchte. „Es
platzte so aus ihr heraus.“ Damit ist offensichtlich ein Gefühl gemeint, denn die
Mutter sagt zu dem Zeitpunkt noch nicht, worum es eigentlich geht. Sie stellt
Fragen zum Unterrichtsthema und Jann war „irgendwie komisch, als ob ich was
spürte, aber nicht weiß, was es ist, und ich sah, dass Mama ganz zittrig ist.
Aufgeregt irgendwie.“ (S. 22). Die Mutter rief Janns Vater dazu, und auch Janns
kleine Schwester ist bei der Aufklärung dabei.
Zuerst beschreibt die Mutter wie sie sehr lange darauf
wartete, schwanger zu werden und dass dann viele Arztbesuche folgten, bis die
Eltern schließlich eine „Spezialpraxis“ (S. 22) aufsuchten
(Kinderwunschzentrum). Nach dieser ersten Etappe vergewissert sich die Mutter bei
Jann, ob er es auch wirklich wissen möchte, wobei Jann zu dem Zeitpunkt noch
gar nicht weiß, worauf seine Mutter hinaus möchte. Er nimmt wahr, dass seine
Mutter „rote Flecken an den Wangen und am Hals und feuchte Augen“ hatte und oft
den Vater ansah (S. 22). Das lässt auch Jan nicht kalt „Ich hatte auch ganz
viele Gefühle auf einmal.“ (S. 22). Die Familie im Buch sucht sich erstmal
einen bequemen Platz. Jann holt eilig seinen Teddy und ein Tuch seiner Mutter
hinzu.
Es folgt die Beschreibung der Intrauterinen Insemination (IUI) und der IVF. Das schlechte Gewissen insbesondere der Mutter ist spürbar: „- aber du solltest doch eigentlich mit ganz viel Gekuschel und Küssen entstehen. Nicht da in der Arztpraxis.“ (S. 24). Jann überzeugen die Worte der Mutter „sie wollten und konnten nicht noch länger auf mich warten und [die Mutter sagte] dass ich nicht nur meinen Papa und meine Mama, sondern auch noch eine Krankenschwester und einen Arzt als Anfangsbegleiter hatte. Superviele extratolle Helfer, damit ich in ihren Bauch kommen konnte“ (S. 24). Es wirkt auf mich, als wolle die Mutter mit diesen Idealisierungen die zuvor noch als wenig wünschenswert dargestellte Entstehungsweise ihres Kindes ausgleichen. Und Jann führt idealisierend fort: „Weil meine Eltern ja bei mir Hilfe bekommen hatten und ich dann so ganz normal gewachsen und geboren bin, deshalb habe ich ihnen wohl gezeigt, dass es auch so klappen kann mit den Kindern! Das war wohl so, als ob sie Vertrauen gekriegt hätten. Und meine Schwester hatte es leichter. Durch mich!“ (S. 24).
Anschließend erklärt Jann die IVF. Interessanterweise wird sehr gründlich beschrieben, wie sichergestellt wurde, dass keine Keimzellen vertauscht wurden. So kann Jann ganz sicher sein, aus den Keimzellen seiner rechtlichen Eltern entstanden zu sein. Dies war Janns Eltern bei ihrer Erklärung ihm gegenüber offenbar sehr wichtig. Umgekehrt wird von Spenderkindern jedoch regelmäßig erwartet, dass sie zweifellos diejenigen Menschen als ihre Eltern annehmen, die ihnen Eltern sein möchten. Schließlich fühlt sich Jann als etwas ganz Besonderes, seine Mutter ist sehr dankbar, die kleine Schwester nachdenklich, der Vater organisiert Beerensaft und schicke Gläser zum Anstoßen und die Eltern schauen sich verliebt an.
Glossar
Im Glossar werden weitere Begriffe erklärt. Unter dem
Begriff „Kinderwunsch-Behandlung“ wird die private Samenvermittlung
beschrieben, wobei nicht unterschieden wird, ob der Mann nur seinen Samen zur
Verfügung stellt oder Co-Parenting angestrebt wird. In diesem Zusammenhang wird
auch kurz die ärztliche Samenvermittlung an alleinstehende Frauen erwähnt:
„Wenn kein Freund seinen Samen zur Verfügung stellt, kann ein Arzt auch Samen
in einer ‚Samenbank‘ bestellen“ (S. 55). Wie der dorthin kommt und welche Rolle
die leiblichen Väter in diesem Zusammenhang spielen, bleibt unklar. Lesbische
Paare werden gar nicht erwähnt.
Kritische Würdigung des Buches
Der Verein Spenderkinder begrüßt es sehr, Kinder über ihre
Entstehungsweise aufzuklären. Bei Kindern, die durch eine IVF aus den
Keimzellen ihrer rechtlichen Eltern entstehen, besteht nicht die
Herausforderung wie bei Spenderkindern, einen weiteren Menschen als leiblichen
Elternteil des Kindes zu integrieren. Dennoch sollten auch diese Kinder über
ihre Entstehungsweise aufgeklärt werden, da z.B. noch unerforscht ist, welche
möglichen langfristigen gesundheitlichen Risiken für das Kind mit einer IVF
verbunden sind. Die Erfahrung zeigt, dass es viele Eltern als schwierig
erleben, ihre Kinder über ihre IVF aufzuklären. Ich hoffe, dass dieses Buch sie
dazu ermutigt!
Aus Kinderperspektive irritiert mich Janns Geschichte. Jann,
das Kinderwunsch-Wunschkind, erfüllt seinen Eltern nicht nur ihren
Kinderwunsch, er kümmert sich auch darüber hinaus um die Bedürfnisse seiner
Eltern bzw. seiner Mutter: Er ist verständig, einfühlsam und besänftigt ihr
schlechtes Gewissen, indem er seiner Entstehungsweise ganz viel Positives
abgewinnt.
Die Aufklärungssituation ist vielen Spenderkindern sehr vertraut: Die Eltern, im Buch nur die Mutter, sind angespannt, nervös. Jann reagiert – wie jedes gute Wunschkind – mit ganz viel Empathie. Ich frage mich, wessen Bedürfnisse an dieser Stelle im Vordergrund stehen. Ist es Aufgabe des Kindes, durch seine stützenden Reaktionen den Eltern die Aufklärung zu erleichtern? Dem Kind im Buch wird die belastende Situation seiner Eltern geschildert. Es spürt, wie aufwühlend es für die Eltern ist, sich erneut mit der Geschichte zu konfrontieren: die zittrige Mama, die sich den Papa zur Unterstützung holt, den sicheren Platz, den erstmal alle brauchen, die zehrende Zeit des Wartens und Hoffens für die Eltern, dann das schlechte Gewissen, dass das Kind nicht so romantisch wie gewünscht entstand. Aufgelöst wird die Spannung durch die kompensatorische Idealisierung. Was haben die Eltern für ein Glück mit Jann, der die Geschichte gleich zur eigenen Ermächtigung nutzt, der dafür gesorgt hat, dass seine Schwester nicht in der Glasschale entstehen musste und seinen Eltern das Vertrauen in ihre Körper zurückgab. Jann versteht zu dem Zeitpunkt noch nicht, dass seine Eltern sich EIN Kind wünschten – nicht ihn als Person.
Aus meiner Sicht sollten Eltern selbst entspannt zu der
gewählten Entstehungsweise ihres Kindes stehen, so dass sie souverän mit ihrem
Kind darüber sprechen können. Dazu kann es helfen, vor der Aufklärung des
Kindes mit dem Partner/der Partnerin, anderen Menschen und selbst innerlich immer
wieder über die Entstehungsweise zu sprechen, um passende Worte zu finden und
die eigenen Gefühle zu sortieren. Erleben Eltern die Entstehungsweise ihres
Kindes als rechtfertigungsbedürftig oder minderwertig, kann sich diese Einstellung
auf das Kind übertragen, so wie bei Jann. In der Aufklärungssituation sollten
sich die Eltern ganz auf die Bedürfnisse des Kindes konzentrieren können. Idealerweise
erfolgt die Aufklärung nebenbei, mit den Informationen, die ein Kind zum
aktuellen Zeitpunkt aufnehmen kann. Ein kleineres Kind weiß vielleicht, dass
bei seiner Entstehung eine Ärztin mitgeholfen hat. Später fragt es nach, was
denn die Ärztin gemacht hat. Vielleicht fragt es auch sofort. Dann sollte die
Mutter oder der Vater die Fragen einfach beantworten. Den anderen Elternteil
hinzuzuholen, mag dem Bedürfnis der Eltern entsprechen, die Aufklärung als
besonderes Ereignis zu zelebrieren. Sie nimmt dem Thema dadurch aber die
Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit und orientiert sich an den Bedürfnissen
der Eltern. Das Kind sollte seine eigenen Gefühle zu seiner Entstehungsweise wahrnehmen
können und nicht die unausgesprochene Bitte seiner Eltern spüren, auf eine
bestimmte Art reagieren zu müssen.
Fazit
„Wunscheltern – Elternwunsch“ – ein Buch aus der Perspektive
und für die Bedürfnisse von Eltern. Auf mich wirkt es so, als sei die
Geschichte aus dem Erleben und zur Entlastung der Eltern geschrieben. Aus
Kinderperspektive wären – auch als Modell für unsichere Eltern – solche Eltern hilfreich,
die sich in der Aufklärungssituation um die Bedürfnisse ihres Kindes kümmern können
und nicht umgekehrt.