Erstes Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu den Rechten von Spenderkindern

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg hat am 7. September 2023 in dem Fall Gauvin-Fournis and Silliau v. France (application
no. 21424/16; Urteil bisher nur auf Französisch
) die erste Entscheidung zu den Rechten von Spenderkindern auf Kenntnis ihrer Abstammung getroffen. Es hat dabei bestätigt, dass das Recht auf Privatsphäre aus Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) grundsätzlich auch das Recht beinhaltet, Informationen über die Identität der Elternteile zu erhalten, aber im Ergebnis einen Verstoß der derzeitigen Rechtslage in Frankreich gegen die EMRK verneint.

Die französische Rechtslage sah von 1994 bis 2022 eine fast absolute Anonymität für Personen vor, die Samen oder Eizellen „gespendet“ haben. Ausnahmen gab es nur für den Zugriff von Ärzten bei einer medizinische Notwendigkeit oder wenn eine ernsthafte genetische Anomalie diagnostiziert wurde. Spenderinnen konnten noch nicht einmal freiwillig auf ihre Anonymität verzichten. Am 2. August 2021 änderte Frankreich sein Bioethik Gesetz (während des bereits laufenden EGMR-Verfahrens). Die Änderungen traten am 1. September 2022 in Kraft. Seitdem haben Spenderkinder eigentlich das Recht, die Identität ihrer genetischen Elternteile zu erfahren. Bis zum 31. März 2025 ist es jedoch weiterhin zulässig, unter der alten Rechtslage gespendete Samen, Eizellen und Embryonen zu verwenden. Daher haben eigentlich erst ab dem 31. März 2025 gezeugte Kinder das Recht, mit Volljährigkeit die Identität ihrer genetischen Elternteile zu erfahren. Für Spenderkinder, die wie die Kläger*innen des Verfahrens vor dem 31. März 2025 gezeugt wurden, gilt das nur, wenn der Spender oder die Spenderin zustimmen – was aber voraussetzt, dass sie noch leben.

Der EGMR betonte in seiner Entscheidung, dass der französische Gesetzgeber die betroffenen Interessen und Rechte in einem informierten und schrittweisen Reflektionsprozess abgewogen habe, der auch öffentliche Konsultationen beinhaltet habe. Frankreich habe daher innerhalb seines zulässigen Einschätzungsspielraums gehandelt. Auch das von 1994 bis 2022 geltende Gesetz habe mit den Zugriffsmöglichkeiten von Ärzten Ausnahmen von der absoluten Anonymität der Spender vorgesehen. Dabei betonte das Gericht, dass es keinen klaren Konsens unter den Mitgliedsstaaten der EMRK zur Frage der Anonymität von Spenderinnen gebe, sondern lediglich einen gewissen Trend zur Aufhebung der Anonymität. In Bezug auf die seit 2022 geltende Rechtslage entschied der EGMR, dass Frankreich auch hier den zulässige Einschätzungsspielraum eingehalten habe, indem er den Zugang von Spenderkindern davon abhängig macht, dass die Spenderinnen zustimmen.

Es handelt sich um eine Kammerentscheidung durch sieben Richterinnen des EGMR, gegen die drei Monate nach Zustellung eine Verweisung an die große Kammer des EGMR beantragt werden kann. Wird ein solcher Antrag gestellt, entscheiden fünf Richterinnen, ob der Fall weiter untersucht werden soll.

Die Klägerin Audrey Gauvin-Fournis und der Kläger Clément Silliau

Erste Klägerin ist die 1980 geborene französische Juristin Audrey Kermalvezen (geb. Gauvin-Fournis). Sie engagiert sich für die Rechte von Spenderkindern in Frankreich und hat zusammen mit ihrem Ehemann Arthur Kermalvezen, ebenfalls ein Spenderkind, die Organisation Origines gegründet. Über die Praxis von Samenspenden in Frankreich hat sie im Jahr 2014 das Buch: „Mes origines : une affaire d’État“ (Meine Herkunft – eine Staatsaffaire) veröffentlicht.1

In den Jahren 2010 bis 2016 klagte sie über mehrere Instanzen vergeblich gegen die staatlich organisierten Fortpflanzungskliniken CECOS auf Erhalt von nicht-identifizierende Informationen über ihren Spender und auf Auskunft ob ihr Bruder und sie den selben Spender hatten. Außerdem forderte sie, dass die Verwaltung ihren Spender kontaktiert, um ihn zu fragen, ob er weiterhin anonym bleiben möchte. Nach Erschöpfung des innerstaatlichen französischen Rechtswegs erhob sie im Jahr 2016 Klage beim EGMR. Für die Klage hatte sie mit einer Spendenkampagne um Unterstützung gebeten, auf die auch der Verein Spenderkinder aufmerksam gemacht hat.

Zweiter Kläger ist der 1989 geborene Clément Silliau, der im Alter von 17 Jahren von seiner Entstehungsweise erfuhr und die gleichen Anträge wie Audrey stellte.

Sieben Jahre nach Einreichung der Klage, während der das französische Bioethik-Gesetz geändert wurde, erfolgte nun die Entscheidung der Kammer.

Bewertung

Es handelt sich um das erste Urteil des EGMR zu Spenderkindern. Die vorherigen Urteile des EGMR betraf keine Fälle künstlicher Befruchtung, sondern anonyme Geburten, Adoptionen und so genannte Kuckuckskinder.

Im Jahr 2003 entschied der EGMR im Verfahren Odièvre vs. France,2, dass die in Frankreich vorgesehene Möglichkeit einer Frau, ihr Kind anonym zur Welt zu bringen, nicht gegen Artikel 8 der EMRK verstößt. Die französische Gesetzgebung verfolge mit der Möglichkeit der anonymen Geburt das Ziel, das Recht auf Leben von Mutter und Kind zu schützen, um Abtreibungen und Aussetzungen zu verhindern. Außerdem hatte Frankreich gerade neue Gesetze verabschiedet, wonach anonym adoptierte Menschen ihre Geburtsmutter durch eine zwischengeschaltete Institution fragen konnten, ob sie auf ihre Anonymität verzichten möchte. Zuletzt hatte die Klägerin Pascale Odièvre nicht identifizierende Informationen über ihre genetischen Eltern (ohne deren Zustimmung) und Geschwister erhalten, die ihr ermöglichten, einige ihrer Wurzeln zurückzuverfolgen.

Anders entschied der EGMR im Jahr 2012 im Fall Godelli vs. Italy3 für die damalige Praxis der anonymen Geburt in Italien. Das Gericht sah Artikel 8 EMRK als verletzt, weil die Klägerin Anita Godelli keinerlei Zugang zu Informationen über ihre Mutter und ihre Geburtsfamilie hatte. Der Antrag der Klägerin auf Erhalt von Informationen wurde vollumfänglich abgelehnt, ohne die widerstreitenden Interessen abzuwägen. Das italienische Gesetz versuche nicht, eine Balance zu finden zwischen den widerstreitenden Rechten der Klägerin, mehr über ihre Abstammung zu erfahren, und denen der Mutter, anonym zu bleiben, sondern entscheide sich ohne Abwägung für die Anonymität.

Bei dem jetzigen Fall gibt es eine deutliche Parallele zum Fall Odièvre: auch hier hatte der französische Gesetzgeber ebenfalls während eines EGMR Verfahrens die Rechtslage so geändert, dass die Mutter zumindest kontaktiert und gefragt werden musste, ob sie auf ihre Anonymität verzichten möchte. Es erscheint also sehr gut möglich, dass die Klage auch hier den französischen Staat überhaupt erst dazu bewegt hat, die Rechtslage zu ändern. Das ist natürlich positiv, denn dass der Spender kontaktiert wird und entscheiden muss, ob er auf seine Anonymität verzichten möchte, ist besser als eine absolute Anonymität. Beim Fall Odièvre hatte die Klägerin allerdings zumindest nicht identifizierende Informationen über ihre Familie erhalten. Solche Informationen haben Audrey Kermalvezen und Clément Silliau nicht erhalten.

Der EGMR hätte anders entscheiden können: Bei anonymen Geburten und Adoptionen muss der Schutz des Rechts auf Leben stärker berücksichtigt werden – weil verhindert werden soll, dass die Mutter eine Abtreibung vornimmt oder das Kind aussetzt. Dieses Recht ist bei Samen- und Eizellspenden nicht betroffen. Es handelt sich um geplante Schwangerschaften, zum Zeitpunkt der Spende existiert das Kind noch nicht. Auch verwundert etwas, dass der EGMR einen gründlichen Konsultationsprozess im parlamentarischen Verfahren ausreichen lässt. Ein solcher Prozess stellt nicht unbedingt sicher, dass die Menschenrechte der beteiligten angemessen berücksichtigt werden.

Bei der Entscheidung des EGMR muss man berücksichtigen, dass die EMRK (nur) einen menschenrechtlichen Mindeststandard für alle Vertragsstaaten vorsieht. Dabei berücksichtigt er meistens, was der Rechtslage in der Mehrzahl der Mitgliedsstaaten entspricht. Daher bezieht sich der EGMR auch darauf, dass es zur Frage der Anonymität von Spendern zwar einen Trend zu mehr Offenheit gibt, aber noch keinen Konsens. So hat der Europarat im Jahr 2022 eine Vergleichsstudie veröffentlicht zu dem Recht von Spenderkindern auf Informationen über ihre Abstammung (Comparative Study on access of persons conceived by gamete donation to information on their origins), in dem eine Empfehlung des Europarates angeregt wurde, dass die Mitgliedsstaaten einen Mechanismus etablieren sollen um das Recht auf Informationen sicherzustellen. Trotzdem hinterlässt es ein bitteres Gefühl, dass die Beachtung der Rechte von Spenderkindern von einem Konsens der Mitgliedstaaten über die Offenheit bei Samen- und Eizellspenden abhängig gemacht wird – unabhängig davon, ob die Rechte der entsprechenden Kinder überhaupt ausreichend gewahrt werden.

Positiv ist, dass der EGMR betont hat, dass Artikel 8 EMRK auf Spenderkinder anwendbar ist und sie grundsätzlich ein Recht auf Kenntnis ihrer genetischen Elternteile haben. Der deutliche Bezug auf die im Jahr 2022 geänderte Rechtslage in Frankreich legt nahe, dass die neuen Regelungen einen entscheidenden Anteil daran hatten, dass der EGMR kein Verstoß gegen die EMRK angenommen hat.

Es gibt daher deutliche Anzeichen dafür, dass der EGMR bei Vertragsstaaten der EMRK, die eine absolute Anonymität der Spender vorsehen, eine Verletzung von Artikel 8 annehmen könnte. Das betrifft vor allem Staaten wie z. B. Dänemark, Belgien, Spanien und Tschechien. Obwohl Großbritannien für seit dem 31. März 2005 gezeugte Kinder ein Recht auf Kenntnis ihrer genetischen Elternteile vorsieht, gilt dies für zuvor gezeugte Kinder nur, wenn der Spender oder die Spenderin auf seine Anonymität verzichtet hat – was er oder sie von sich aus tun muss.

Reaktionen

Audrey Kermalvezen äußerte sich kurz vor dem Urteil weiterhin hoffnungsvoll zu ihrem 14 Jahre dauernden Verfahren, da die Änderungen des französischen Rechts nichts an ihrer Situation geändert hatten:

„Ich hoffe, dass den Richtern klar wird, wie unzureichend das kürzlich von Frankreich eingeführte System ist. Die einzige Information für mich, die ich nach fast 14 Jahren Verfahren, im März 2023, auf legalem Wege erhielt, war, dass mein Spender gestorben ist. Daher werde ich niemals das Recht haben, seine Identität zu erfahren. Ich werde auch niemals Zugriff auf andere sogenannte nicht identifizierende Informationen haben, da der französische Staat beschlossen hat, deren Übermittlung von der Zustimmung des Spenders abhängig zu machen!

Daher erfahre ich zum Beispiel nie die Krankengeschichte meines Spenders, obwohl diese in seiner Akte bei der Samenbank erfasst ist.

Konkret habe ich kein Recht darauf, zu erfahren
als er starb,
noch woran,
ob er Kinder hätte,
was seine Krankengeschichte ist,
wie er aussah,
wer er war…

Ich habe keine Informationen über meine leiblichen Geschwister. Ich habe kein Recht zu wissen, wie viele Halbbrüder und Halbschwestern ich in der Natur habe oder wer sie sind …
auch nicht, wenn mein Bruder und ich mit derselben Spenderin gezeugt wurden. Zur Erinnerung: Die Verwendung eines DNA-Tests zur Feststellung der eigenen Herkunft ist in Frankreich strafbar (zwischen 3.750 Euro Geldstrafe und bis zu 30.000 Euro Geldstrafe und 2 Jahre Gefängnis wenn dadurch ein anonymer Spender identifiziert werden kann).“

Nach dem Urteil äußerte sie, dass es ein bitteres Gefühl bei ihr hinterlasse und dass das Urteil von vorherigen Entscheidungen zu Artikel 8 EMRK abweiche. Sie deutete an, dass sie eine Verweisung zur Großen Kammer beantragen wird. Außerdem wies sie darauf hin, dass Staaten wie Schweden anonyme Spenden schon im Jahr 1984 verboten hätten, das Vereinigte Königreich im Jahr 2003. Daher sei der Trend zu mehr Offenheit in Bezug auf die genetische Abstammung nicht so neu, wie der EGMR in seinem Urteil behauptet habe.

Ausblick: Wenn es nicht gut ist, ist es nicht das Ende

Jedes Spenderkind wird die Trauer und das Gefühl, nicht fair behandelt worden zu sein, nachvollziehen können. Audrey war als Anwältin die Erfolgschancen ihres Verfahrens von Anfang an bewusst und sie hoffte auf ein positives Ergebnis – dass sie und Clément dies auf sich genommen haben und damit versucht haben, für die Rechte aller Spenderkinder in Europa zu kämpfen, ist bewundernswert.

Dieser Kampf hat gerade erst begonnen. Der Trend zu mehr Offenheit ist da in Europa: es gibt immer mehr Staaten, die sich entscheiden die Rechte von Spenderkindern auf Kenntnis ihrer Abstammung zu schützen. Auch wenn die Rechtslage selten perfekt ist, kann sie weiter verbessert werden: es handelt sich um einen fortschreitenden Prozess. Es ist kein Sprint, sondern ein Marathon, und der Weg über Klagen und strategische Prozessführung ist nur ein möglicher Weg zum Erfolg. Wichtig wird weiterhin sein, dass Spenderkinder sich zusammenschließen, von ihren Erfahrungen berichten und eine Änderung der Rechtslage fordern.

Vielleicht ist es aber auch noch nicht das Ende: Audrey Kermalvezen hat zumindest angedeutet, dass sie eine Verweisung an die große Kammer des EGMR beantragen wird.

  1. Audrey erzählt mehr zu ihrer Geschichte auf Englisch bei einem Symposium im Jahr 2021. []
  2. Application no. 42326/98 – Urteil []
  3. Application no. 33783/09 – Urteil []

Veranstaltungshinweis: Fachtag „Das Kindeswohl in der Reproduktionsmedizin“ der Diakonie Deutschland und dem Ev. Bundesverband Adoption e.V. am 30. November 2023

Am 30. November 2023 findet von 10:30 bis 16:15 Uhr der Fachtag: Das Kindeswohl in der Reproduktionsmedizin, in Berlin statt. Die Anmeldung ist möglich bis zum 3. November, unter https://ewde.guestoo.de/public/event/f43ece9d-452b-4dba-bb48-ae582d058b72. Nach Absenden der Anmeldung bitte Bestätigungsmail beachten, damit die Anmeldung verbindlich zählt. Die Teilnahme ist kostenfrei.

Sehr große Halbgeschwistergruppen sind weltweit ein Thema – ein Beitrag im Deutschlandfunk vom 11. Juni 2023

Im Deutschlandfunkbeitrag Spenderkinder auf Spurensuche. Vater, Mutter, Massenprodukt (1/2): Überall Halbgeschwister vom 11. Juni 2023 geht es um ein Thema, das auch in Deutschland immer offensichtlicher wird: DNA-Datenbanken decken auf, dass in den letzten Jahrzehnten sehr große Halbgeschwistergruppen entstanden sind.

Die Bundesärztekammer empfahl von 2006 bis 2018 eine Begrenzung auf maximal 10 Kinder pro „Spender“1 und der Arbeitskreis für Donogene Insemination, ebenfalls seit 2006, eine Begrenzung auf maximal 15 Kinder pro „Spender“2. Diese Parallelität wirft nebenbei die Frage auf, für wen die Begrenzung der Bundesärztekammer gelten sollte, wenn nicht für die Mitglieder des Arbeitskreises für Donogene Insemination.

Nach wie vor gibt es in Deutschland keine verbindliche Begrenzung. Unsere Beobachtungen deuten darauf hin, dass sowohl in der Vergangenheit als auch gegewärtig sehr große Halbgeschwistergruppen entstehen. Neben einer verbindlichen Begrenzung wünschen wir uns, dass Reproduktionsmediziner und Samenbanken offenlegen, mit wie vielen Halbgeschwistern unsere Mitglieder aus den verschiedenen Entstehungsorten rechnen können.

  1. (Muster-)Richtlinie zur Durchführung der assistierten Reproduktion – Novelle 2006. Deutsches Ärzteblatt, 103(20), A 1397. – In der aktuellen Version der „Richtlinie zur Entnahme und Übertragung von menschlichen Keimzellen im Rahmen der assistiertenReproduktion“ aus dem Jahr 2018 findet sich keine Aussage mehr zu einer Obergrenze. Grund hierfür ist, dass der Vorstand der Bundesärztekammer m Februar 2015 beschlossen hatte, die medizinisch- wissenschaftlichen Fragestellungen klar von den gesellschaftspolitischen Aspekten zu trennen. []
  2. Richtlinien des Arbeitskreises für Donogene Insemination zur Qualitätssicherung der Behandlung mit Spendersamen in Deutschland, S. 25. []

Spenderkinder: Gar nicht neugierig?

Einige Spenderkinder betonen, dass sie überhaupt nicht neugierig auf ihre genetische Herkunft sind.

Autorin dieses Textes ist Wendy Kramer. Sie ist Mutter eines durch Samenvermittlung gezeugten Sohnes und Gründerin des Donor Sibling Registry, über das Spenderkinder weltweit, z. B. mittels Spendernummer, bereits vor dem Aufkommen von DNA-Datenbanken nach genetischen Verwandten suchten. Der Text wurde im Original bei Psychology Today veröffentlicht. Mit Wendys freundlichem Einverständnis durften wir ihn für unsere Homepage übersetzen. Da die Rechtslage in Deutschland eine andere ist, als in den USA, haben wir den ersten Absatz durch eine Darstellung der deutschen Rechtslage ersetzt.

Menschen, die mit Spendersamen, -eizellen oder -embryonen gezeugt wurden, wachsen in der Regel auf, ohne einen Teil ihrer nahen genetischen Verwandten zu kennen. Die Bundesärztekammer wies zwar bereits 1970 darauf hin, dass durch Samenvermittlung entstehende Menschen ein Recht darauf haben, die Identität der genetischen Elternteile zu erfahren.1 Die Daten werden in Deutschland aber erst seit 2018 zentral gespeichert.2 Für vor 2018 gezeugte Menschen oder Menschen, die im Ausland oder durch vermittelte Eizellen oder Embryonen gezeugt wurden, ist es daher oft schwierig, ihr Recht durchzusetzen und Informationen über unbekannte genetische Elternteile zu erhalten – und dadurch auch über ihre medizinische Familiengeschichte. Das Recht auf Kenntnis ist nicht abhängig von einem bestimmten Alter, wie der Bundesgerichtshof 2015 bestätigte. Dennoch ist Kontakt zum weiteren genetischen Elternteil und zu Halbgeschwistern in der Kindheit in der Regel nicht geplant. Das bedeutet, dass Spenderkinder sich früher oder später selbst mit der Frage beschäftigen, ob sie mehr über ihre genetischen Verwandten wissen und ggf. Kontakt aufnehmen möchten.

Oft hören wir Geschichten von Menschen, die durch Samen-, Eizell- oder Embryonenvermittlung entstanden sind und die ihre Verwandten suchen und finden. Das Donor Sibling Registry hat 85.500 Mitglieder, von denen mehr als 24.000 Verbindungen zu Halbgeschwistern und/oder genetischen Elternteilen hergestellt haben. Viele weitere haben durch die Übermittlung ihrer DNA an kommerzielle DNA-Datenbanken und über private Suchen Verbindungen hergestellt. Manchmal haben auf diese Weise entstandene Menschen jedoch widersprüchliche Gefühle oder bestehen darauf, dass sie überhaupt nicht neugierig oder daran interessiert sind, ihre Halbgeschwister und/oder ihren weiteren biologischen Elternteil (den Spender/die Spenderin) kennenzulernen oder etwas über ihre Abstammung oder ihre medizinische Familiengeschichte zu erfahren. Auch wenn einige tatsächlich kein Interesse haben mögen, kann die Ambivalenz oder das völlige Desinteresse auch folgende Gründe haben:

  • Sie fühlen sich verunsichert, wie sie Beziehungen zu genetischen Verwandten gestalten sollen, die gleichzeitig Fremde sind.
  • Sie schämen sich für die Art und Weise, wie sie gezeugt wurden, und wollen es nicht wahrhaben oder darüber nachdenken.
  • Sie nehmen an, dass der unbekannte genetische Elternteil anonym bleiben möchte, obwohl die Anonymität von den Samen- und Eizellbanken vorgegeben wurde. Viele Spender*innen wollten jedoch nie anonym bleiben oder haben ihre Meinung geändert und sind froh, gefunden zu werden.
  • Sie befürchten, dass ihre Eltern durch die Neugierde verletzt oder enttäuscht werden könnten. Das gilt vor allem in Familien, in denen es nicht erwünscht ist, über Spender*in oder Halbgeschwister zu sprechen, oder wenn ihr Einfluss oder ihre Bedeutung heruntergespielt wird.
  • Ihre Eltern haben ihnen vermittelt, dass jegliche Neugier auf genetische Verwandte ausdrückt, dass die Eltern nicht perfekt oder als Eltern nicht gut genug waren.
  • Sie haben das Gefühl, dass jegliche Neugier als Verrat empfunden wird an den Eltern, die sie aufgezogen haben, insbesondere an den nicht-genetischen Elternteilen, selbst wenn diese bereits verstorben sind.
  • Sie befürchten, dass andere denken könnten, sie wären neugierig, weil sie unzufrieden mit ihrer Familie sind.
  • Ihre Eltern spielen die Bedeutung oder Wichtigkeit der unbekannten biologischen Familie des Kindes herunter oder verneinen oder verleugnen sie. Manchmal vermitteln die Eltern durch Worte oder Schweigen die klare Botschaft, dass der unbekannte genetische Elternteil oder die Halbgeschwister keine willkommene Ergänzung ihres Lebens oder des Familienkreises wären.
  • Sie befürchten, dass die Geschwister, mit denen sie aufgewachsen sind, über die neu gefundenen genetischen Verwandten nicht erfreut wären.
  • Sie befürchten, dass Freunde, Familie, Ehepartner, Partner oder andere sie dafür verurteilen würden – etwa mit Bemerkungen wie: „Diese Leute gehören nicht zu deiner Familie“, „DNA macht noch keine Familie aus“ oder „Warum dieses Fass aufmachen?“
  • Sie fühlen sich nach einem Kontaktversuch oder sogar nach Zustandekommen eines Kontakts zurückgewiesen oder verlassen. Die Zurückweisung ist in der Regel ein Hinweis auf die Grenzen der zurückweisenden Person und hat nichts mit der Person zu tun, die zurückgewiesen wird.
  • Sie haben Angst, nicht gut genug zu sein oder nicht genug geleistet zu haben.
  • Sie fühlen sich überfordert angesichts der Möglichkeit, 10, 50, 100 oder sogar mehr als 200 Halbgeschwister zu finden und dann herausfinden zu müssen, wie sich diese neuen Beziehungen mit einem bereits vollen Schul-/Arbeits-/Hausleben und Zeitplan pflegen/vereinbaren lassen.
  • Sie befürchten, nicht über die emotionale Kapazität oder mentale Stabilität zu verfügen oder einfach gerade nicht am „richtigen Punkt“ im Leben zu sein, um ein Treffen oder die Aufnahme neuer Verwandter in ihr Leben bewältigen zu können, insbesondere wenn es viele sind. Das kann auch an allgemeiner Angst liegen, neue Menschen kennenzulernen.
  • Sie befürchten, dass ihre neuen Verwandten sie nicht mögen oder von ihnen enttäuscht sein werden oder dass sie nicht genügend Gemeinsamkeiten haben werden.
  • Sie befürchten, zu erfahren, dass der biologische Elternteil, der 50 % ihrer DNA beigesteuert hat, in irgendeiner Weise Schwachstellen hat, was sich dann auf ihr eigenes persönliches Identitätsgefühl auswirken könnte.
  • Sie befürchten, dass es ihre derzeitigen Familienbeziehungen, ihr Familiensystem und ihre familiäre Stabilität beeinträchtigen könnte, genetische Verwandte kennenzulernen
  • Sie befürchten, etwas über genetisch vererbbare Gesundheitsprobleme zu erfahren.

Diese Gefühle und Befürchtungen hängen damit zusammen, wie Menschen beigebracht wird, Familie zu definieren. Wenn Kindern gesagt wird: „Diese Leute sind nicht deine Familie“, wie sollen sie dann eine eigene Vorstellung davon entwickeln, was Familie für sie bedeutet? Wenn Eltern bewusst nicht einmal über die Tatsache sprechen, dass ihre Kinder einen weiteren genetischen Elternteil haben (z. B. durch beiläufige Erwähnung verschiedener körperlicher Merkmale, Gaben, Stärken, Hobbys oder Interessen, die von der unbekannten Seite der Familie stammen könnten), vermitteln sie ihren Kindern die klare Botschaft, dass dieses Thema nicht erforscht, anerkannt oder diskutiert werden sollte.

Sind die Eltern bereit, ihre eigenen Ängste und Unsicherheiten zu hinterfragen und sogar neu zu definieren, was der Begriff „Familie“ für ihre Kinder bedeutet, die mit den Ei- oder Samenzellen fremder Personen gezeugt wurden? Manchmal bestehen Eltern darauf, dass ihre Kinder überhaupt nicht neugierig seien – und dann sieht man dieselben erwachsenen Spenderkinder im Donor Sibling Registry [Anm.: oder in anderen vertraulichen Gruppen] schreiben, dass ihre Eltern wütend oder verletzt wären, wenn sie von ihrem Wunsch wüssten, die Seite ihres weiteren genetischen Elternteils kennenzulernen.3 Dabei können Spenderkinder, die sich als einzigartige und wunderbare Mischung aus Anlage und Umwelt begreifen, sowohl die biologischen als auch die nicht-biologischen Elternteile anerkennen, ohne dass sie deren Anteile herunterspielen müssen.

Die Neugier kann im Laufe des Lebens eines Spenderkindes variieren, und die Familien können ihren Kindern zugestehen, zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich neugierig zu sein. Manche Spenderkinder sind erst neugierig, wenn sie in die Pubertät kommen und anfangen, sich damit auseinanderzusetzen, wer sie als Erwachsene sein werden. Andere sind besonders neugierig, wenn sie selbst Kinder bekommen.4 Zuweilen lässt die Neugier nach, wenn andere Dinge im Leben anstehen und Aufmerksamkeit fordern.

Desinteresse vorzutäuschen, kann eine gute Möglichkeit sein, sich selbst und andere vor Enttäuschungen und vor dem Unbekannten zu schützen. Manche Spenderkinder behaupten erst dann, kein Interesse zu haben, wenn sie erfahren, dass der unbekannte genetische Elternteil anonym bleiben möchte. Diese Reaktion schützt sie davor, sich zurückgewiesen zu fühlen. Wenn ein genetischer Elternteil Kontakt verweigert, bedeutet das jedoch nicht, dass es keine Hoffnung für die Zukunft gibt. Manche genetischen Elternteile brauchen Zeit, um zu verarbeiten, dass sie einige oder auch sehr viele genetische Kinder haben. Andere genetische Elternteile müssen vielleicht mit Familienmitgliedern verhandeln oder sie respektieren, die nicht so aufgeschlossen sind, die Spenderkinder kennenzulernen. Leider kommt es manchmal vor, dass Partner*innen oder Ehepartner*innen der genetischen Elternteile eine mögliche Beziehung zwischen Spenderkindern und ihren biologischen Eltern verhindern.

Diese allgemeinen Sorgen, Ängste und Vorbehalte gegenüber der unbekannten genetischen Familie können anerkannt und verarbeitet werden, so dass es nicht notwendig ist, jemanden davon abzuhalten, die erweiterte Familie zu erforschen.

If we know where we came from, we may better know where to go. If we know who we came from, we may better understand who we are. Anonymous

(Wenn wir wissen, wo wir herkamen, wissen wir vielleicht besser, wo wir hingehen sollen. Wenn wir wissen, von wem wir herkamen, verstehen wir vielleicht besser, wer wir sind. – Anonym)

  1. An Eizellen und Embryonen dachte man im Jahr 1970 noch nicht. []
  2. Im Samenspenderregister []
  3. Diese Befürchtung äußern auch nicht wenige Spenderkinder, die den Verein Spenderkinder kontaktieren. []
  4. Vermutlich weil ihnen die Bedeutung von Vererbung mit eigenen Kindern bewusster wird. []

Der Fall des Massenspenders Jonathan Jacob Meijer

Ende April ging die Meldung durch die Nachrichten, dass die niederländische Spenderkinder-Organisation Stichting Donorkind ein Unterlassungsurteil bei einem Gericht in Den Haag gegen den niederländischen Samenspender Jonathan Jacob Meijer erwirkt hat, der über 500 Kinder gezeugt haben soll. Das Urteil verbietet Meijer bei Androhung einer Strafe von 100 000 Euro, weiterhin seinen Samen anzubieten, er muss Kliniken auffordern seinen Samen zu vernichten. Ausnahmen gibt es für die Zeugung von Geschwisterkinder.

In den Niederlanden durften bis 2019 nur 25 Kinder durch einen Samenspender entstehen, seit 2019 wurde die die Grenze zur besseren Berücksichtigung von Geschwisterkindern auf 12 Familien geändert. Meijer, ein 41jähriger Musiker, hatte sich laut den Berichten bei 11 Samenbanken in den Niederlanden sowie bei jeweils einer in Dänemark und der Ukraine als Spender registriert und außerdem seinen Samen auch privat über diverse Online-Foren angeboten. Dabei soll er die empfangenden Familien nach Berichten teilweise bewusst über die Anzahl der durch ihn gezeugten Kinder getäuscht haben. 2017 wurde die niederländische Vereinigung für Reproduktionsmedizin auf die Massenspenden aufmerksam und setzte ihn auf eine schwarze Liste. Allerdings gibt es in den Niederlanden kein Zentralregister, das über die Einhaltung dieser Grenze wachen würde und die Kliniken teilen ihre Informationen über Spender nicht.

Das Gericht begründete sein Unterlassungsurteil mit der hohen Inzestgefahr bei über 500 Halbgeschwistern und damit, dass viele Eltern nun ungewollte Teil eines riesigen Verwandtschaftsnetzwerks seien.

Stichting Donorkind nannte das Verhalten Meijers ein „bizarres soziales Experiment“. Während es einige Berichte über Massenspender gibt, bewegt sich die Zahl der genannten gezeugten Kinder meist um die 100 – der Fall Meijer sticht wegen der ungewöhnlich hohen Zahl von über 500 besonders hervor. Obwohl sich die meisten Spenderkinder durchaus über Halbgeschwister freuen, sollte eine bestimmte Zahl nicht überschritten werden (siehe auch unser Beitrag 100 Halbgeschwister und mehr) – vor allem weil die Gefahr einer unwissentlichen Inzest-Beziehung steigt, aber auch weil eine so hohe Zahl die Fähigkeit der meisten überfordern wird, eine sinnvolle Beziehung aufbauen und pflegen zu können.

Ein Fall wie mit Meijer könnte jedoch ohne weiteres auch in Deutschland passieren. Anders als in den Niederlanden gibt es in Deutschland noch nicht einmal eine gesetzliche Obergrenze für die Zahl von Kindern, die durch eine Person gezeugt werden können, die Samen abgibt. Ein Münchner Reproduktionsmediziner dokumentierte über 100 Schwangerschaften durch den Samen eines Mannes. Der Arbeitskreis Donogene Insemination empfiehlt offiziell eine Grenze von 15 Kindern, die jedoch nicht einmal von den eigenen Mitgliedern eingehalten wird. So bot z.B. eine Samenbank aus Essen noch im Jahr 2022 bis zu 74 Einheiten eines Mannes in ihrem Online-Katalog an.

Der Verein Spenderkinder fordert daher, dass eine gesetzliche Höchstgrenze von Familien festgelegt wird, die Samen einer Person in Anspruch nehmen, die diesen über eine Samenbank zur Verfügung stellt. Die Einhaltung könnte das Samenspenderregister überprüfen, die entsprechenden Spender sperren und auch eine Warnung aussprechen, wenn sich Spender bei mehreren Samenbanken registrieren lassen.

Es gibt auch deutsche Eltern, die ein Kind durch Jonathan Jacob Meijer bekommen haben, und die sich in Kontakt zueinander und zu den niederländischen Familien befinden. Einen Kontakt können wir für andere betroffene Familien auf Nachfrage gerne herstellen.

Rezension Christine Müller: Der Schattenvater: Narrative Identitätskonstruktionen von »Kuckuckskindern« und »Spenderkindern«

Eine Gastrezension von Immo Lünzer aus Sicht eines Kuckuckskindes

»Nicht Fleisch und Blut, das Herz macht uns zu Vätern und Söhnen.« (Friedrich Schiller – Die Räuber)

In ihrer 2002 erschienen Dissertation „Der Schattenvater: Narrative Identitätskonstruktionen von „Kuckuckskindern“ und „Spenderkindern“ (Verlag Forschung psychosozial, 44,90 Euro, auch als eBook erhältlich) untersucht Christine Müller ein immer noch stark tabuisiertes und bislang wenig erforschtes Thema: Probleme der Identitätsfindung bei Kuckuckskindern und Spenderkindern (Kinder, die aus einer Samenspende gezeugt wurden).

Die Entdeckung dieser Kinder, dass ihr sozialer Vater nicht der biologische Papa ist, kann zu starken Erschütterungen führen. Kuckuckskinder sind oft sehr erschüttert, wenn sie endlich die Wahrheit über ihren ‚Erzeuger‘ erfahren – und zugleich werden viele wichtige Fragen beantwortet, weil es oftmals besonders schwierig mit dem sozialen Vater war, bei dem sie aufgewachsen sind.

Bei ihnen überwiegen negative Affekte, wie Hass, Eifersucht, Neid oder Schuld. Bei Spenderkindern ist durchaus auch Dankbarkeit und Liebe anzutreffen. Außerdem scheint das Niveau der Abwehrmechanismen bei diesen höher zu sein.

Insgesamt scheinen die Entwicklungsverläufe von Spenderkindern einen günstigeren Ausgang zu nehmen als die der Kuckuckskinder. Die Autorin dazu: Die größten Unterschiede zwischen Kuckuckskindern und Spenderkindern in dieser Untersuchung betreffen das belastete Familienklima sowie die ökonomischen und sozialen Gegebenheiten. Hierbei scheinen die Kuckuckskinder tendenziell zu den Verlierer*innen zu gehören: Die Ehequalität der Eltern eines Kuckuckskindes (Mutter und sozialer Vater) wurde in den meisten Fallen als schlecht bezeichnet;

bei den Eltern der Spenderkinder (Mutter und sozialer Vater) scheint die Ehe in den meisten Fällen stabil zu sein und im Modus gegenseitiger Unterstützung zu funktionieren.

Nach der Aufklärung erfuhren die Beziehungen der Spenderkinder zu den Eltern und die Beziehungen der Eltern zueinander keine größeren Unterschiede. Bei den Kuckuckskindern hingegen änderten sich die Beziehungen zum Kind und zwischen den Eltern zum Teil noch einmal mehr zum Negativen (vgl. Kap. 5.3.1). Die sozioökonomischen Bedingungen waren bei den Spenderkindern in aller Regel günstiger, was sich z. B. in den besseren Bildungschancen zeigt.‘

‚Die Teilnehmer*innen beider Gruppen erleben die Aufklärung nach anfänglichem Schock als insgesamt positiv. Sie geben an, etwas über sich und die elterliche Beziehung verstanden zu haben. Die Auswirkungen auf das weitere Leben waren bei den Kuckuckskindern meist negativer als bei den Spenderkindern; hier änderte sich im Prinzip nichts.‘ ‚Das Beziehungserleben unterscheidet sich: In der Gruppe der Kuckuckskinder existieren mehr negative frühe Beziehungserfahrungen, positive Erfahrungen in der Beziehung scheinen bei einem klaren »Ja« der Eltern zum Kind gegeben.

Die Teilnehmer*innen in der Gruppe der Spenderkinder beklagen sich über eine schwierige Beziehung in den Fällen, in denen die Familie von Scheidung betroffen war. Die Personen aus der untersuchten Gruppe der Kuckuckskinder beschreiben ein deutlich schwierigeres Erleben in aktuellen Beziehungen als die Gruppe der Spenderkinder (vgl. Kap 5.3.1): ‚Lebensbestimmende Konflikte, die bestehende Beziehungen und die Entwicklungsläufe der Teilnehmer*innen belasten, zeigen sich vermehrt in der Gruppe der Kuckuckskinder. Dort fehlte häufiger die Fähigkeit zu einer konstruktiven Konfliktbewältigung (vgl. Kap. 5.3.2).‘

‚Schwierige, die Beziehungen belastende Gefühle waren vermehrt in der Gruppe der Kuckuckskinder zu finden: Manche sprachen von tiefsitzenden Gefühlen der Unsicherheit und Verlustängsten, die sie ihr ganzes Leben begleitet hätten. Viele sprechen von einem Schamerleben oder berichten von Hassgefühlen, besonders gegenüber ihren Müttern und ihren sozialen Vätern. Die Kuckuckskinder leiden vermehrt unter mangelnder Anerkennung, was sich dann im Kontakt zu den biologischen Vätern, sofern dieser möglich war, erneut bestätigt.

Bei den Spenderkindern gibt es sehr vereinzelt das Gefühl einer ausgeprägten Erwartung zur Dankbarkeit vonseiten der Mütter aufgrund der Opfer, die diese erbracht hatten. Das positive Selbstbild der Spenderkinder ist maßgeblich über einen hohen Leistungsanspruch definiert.‘

Abschließend fordert Christine Müller: ‚Gerade die Auseinandersetzung mit den neuen Reproduktionstechniken sollte nicht auf einer abstrahierten »entindividualisierten« Ebene stattfinden. Und auch die Kuckuckskinder verdienen einen genauen Blick auf ihr individuelles Schicksal.

Die Studie hat bei mir mehr Fragen aufgeworfen, als Antworten gegeben. Die Begrenzung dieser Arbeit muss ich an dieser Stelle akzeptieren. Christine Müller sagt dazu: „Es war mir wichtig, für Kuckucks- und Spenderkinder zu schreiben. Dabei wollte ich ihre Gefühle und ihr Verhalten verstehbarer machen – genauso wie das Verhalten und die möglichen Gefühle der Eltern. Ein Ziel der Arbeit war es, aus den Ergebnissen dieser Einzelfallstudie Anregungen und weiterführende Fragestellungen für zukünftige Forschungen abzuleiten.‘ Dazu schlägt sie vor: ‚Ein mögliches Ziel wäre ggf. die Etablierung eines Beratungsangebots für diesen spezifischen Personenkreis, z. B. die Mütter und ggf. die sozialen Vater eines Kuckuckskindes sowie die Eltern von Spenderkindern, die Spender und selbstverständlich die Kinder selbst. Als Gruppentherapeutin halte ich einen gruppentherapeutischen Prozess zur Unterstützung von Betroffenen, die mit der Aufklärung in eine längerfristige Krise geraten sind, für äußerst hilfreich.‘

Hoffen wir, dass dies zunehmend gelingt. Frau Müllers Doktorvater Prof. Dr. Wolfgang Mertens hat das Vorwort – für diese Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie an der Fakultät für Psychologie der Universität in München – geschrieben; ein Auszug daraus: „Aus der Therapie entsprechender Menschen ist bekannt, wie quälend die Frage nach dem biologischen Vater sein kann, vor allem in solchen Fällen, wenn Mütter sich konsequent weigern, ihren Kindern darüber Auskunft zu geben. Aus eigener Erfahrung und angereichert mit einem psychoanalytischen Verständnis von mannigfachen Abwehrvorgängen kann die Verfasserin eine lebendige Einschätzung dieser Problematik vorlegen. Neben einer ausführlichen theoretischen Auseinandersetzung mit den Themen Identität, Affektentwicklung und der Rolle der Eltern im Sozialisationsprozess besticht die Arbeit auch durch einen sorgfältig und differenziert durchgeführten empirischen Teil. Die Verfasserin hat sich intensiv mit den Methoden der Rekonstruktion narrativer Identität, der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD) sowie der psychoanalytischen Hermeneutik auseinandergesetzt und damit einen zeitgemäßen Mixed-Methods-Ansatz verfolgt.

Forschungsleitende Fragestellungen sind die folgenden: Welchen spezifischen Einflüssen waren diese Menschen in ihrer Kindheit innerhalb ihrer Familien ausgesetzt und welche psychischen

Folgen haben sich daraus für sie ergeben? Lassen sich spezifische Vater- und Mutterbilder identifizieren? Was bedeuten diese für das Selbsterleben der betreffenden Personen? Lassen sich aus psychoanalytischer Sicht bestimmte Konfliktdimensionen und strukturelle Eigentümlichkeiten im Sinne der OPD erkennen? Gibt es Auffälligkeiten des Übertragungs- und Gegenübertragungs-

geschehens? Lassen sich die beiden Personengruppen hinsichtlich ihrer bevorzugten Coping- und Abwehrmechanismen unterscheiden?“

Leider lagen der Autorin keine Interviews mit Vätern und Müttern vor – das wäre sicher sehr aufschlussreich gewesen. Bleibt zu hoffen, dass dies in einer weiteren Arbeit dokumentiert wird.

Für mich als Kuckuckskind ist das Buch insgesamt ein sehr interessantes und aufschlussreiches Werk. Witzigerweise ist das Werk in Gießen erschienen, wo ich als Kuckuckskind geboren und 25 Jahre aufgewachsen bin – aber erst mir 42 Jahren bin ich dahinter gekommen, dass ich so ein besonderes Kind bin. Dank an Holly Hazelnut für den Hinweis auf dieses eindrucksvolle Werk.

Die Autorin:

Christine Müller, Dr. phil., Dipl.-Psych., ist analytische Psychotherapeutin und Gruppentherapeutin. Sie ist als Dozentin an der Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie in München tätig und promovierte im Bereich Familienforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

ZDF-37°-Reportage „Auf der Suche nach dem leiblichen Vater“ am 16. April 2023 mit Spenderkinder-Mitglied Sandra

In der ZDF 37°-Folge „Auf der Suche nach dem leiblichen Vater“ erzählt Spenderkinder-Mitglied Sandra wie sie als Erwachsene über ihre Entstehungsweise aufgeklärt wurde. Anschließend machte sie sich auf die Suche nach ihrem Erzeuger.

Rechtliche Korrektur: Das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung galt auch schon zu Sandras Entstehungszeit. Bereits 1970 wies die Bundesärztekammer darauf hin, dass Spenderkinder ein Recht haben, zu erfahren, wer ihr genetischer Vater ist (Deutsches Ärzteblatt, 1970). Die Sendung ist bis zum 16.04.2028 über die Mediathek abrufbar.

Vorfahren, Vorlieben und Erkrankungen? Veranstaltung am 19.4. im Hygienemuseum Dresden mit Spenderkinder-Mitglied Kay

Am Mittwoch, den 19. April 2023 findet um 19 Uhr im Hygienemuseum Dresden die Veranstaltung „Vorfahren, Vorlieben und Erkrankungen – Was verraten genetische Herkunfstests und wie sicher sind sie?“ statt.

Über das Thema diskutieren folgende Gäste, darunter Spenderkinder-Mitglied Kay:

Prof. Dr. Evelin Schröck, Humangenetikerin, Leiterin des Instituts für Klinische Genetik am Uniklinikum Dresden;
Dr. Isabelle Bartram, Molekularbiologin und Mitarbeiterin beim Gen-Ethischen Netzwerk e. V.;
Dr. Kay Büttner, engagiert sich bei Spenderkinder e. V.; hat mittels eines kommerziellen Gentests seine Halbschwester und seinen biologischen Vater gefunden;
Dr. Thilo Weichert, Jurist und Politologe, Vorstandsmitglied der Deutschen Vereinigung für Datenschutz e. V. (DVD); er hat 2018 ein viel beachtetes Gutachten zu Datenschutzregelungen des Gentestanbieters und Weltmarktführers Ancestry erstellt.

Moderation:
Christiane Grefe, Journalistin und Sachbuchautorin, Berlin

Karten gibt es für 1,50 / 3 Euro im Vorverkauf, online, an der Museumskasse oder an der Abendkasse.

Die Veranstaltung findet im Rahmen der Ausstellung „Von Genen und Menschen“ statt.