2004. Biologieunterricht. Blutgruppen. Drei Dinge, die mein Leben nachhaltig verändert haben. Mit 14 Jahren stellte ich fest, dass ich ein Spenderkind bin.
Ich wusste schon immer, dass in meiner Familie irgendetwas nicht stimmt. Etwas Unausgesprochenes und nahezu Bedrohliches. Meine Eltern verheimlichten mir 16 Jahre lang ein Spenderkind zu sein. 16? Wieso schreibt er dann erst 14 könnte man sich fragen. Dies möchte ich im Folgenden erläutern.
Die Erkenntnis
Ich war schon immer sehr naturwissenschaftlich interessiert und habe neues Wissen aufgesaugt wie ein Schwamm. Im Jahre 2004 hatten meine Eltern noch für mich vorgesehen, Medizin zu studieren was eigentlich nicht mein Wunsch war, dennoch eignete ich mir jedes biologische Wissen an, das ich erhalten konnte. Das Thema Blutgruppen und Vererbung fand ich besonders spannend und nachdem es im Unterricht behandelt wurde, kam ich auf die Idee zu prüfen welcher Blutgruppe ich noch hätte angehören können.
Ich selbst habe die Blutgruppe 0, welche auch meine Mutter hat. Das wusste ich bereits aus Voruntersuchungen beim Arzt bzw. aus ihrem Blutspendeausweis. Als ich meinen Vater fragte, sagte dieser allerdings AB. Wie ich gelernt hatte, konnte dies aber nicht sein, da ich somit auch A oder B sein müsste.
Am nächsten Tag ging ich mit meiner Verunsicherung zu meinem Lehrer und versuchte die Situation aufzuklären und dann kam die Gewissheit: Es stimmte etwas nicht. Es sollten ganze zwei Jahre vergehen bis ich sicher war warum.
Das Geständnis
Ich habe meine Eltern nie direkt mit diesem Thema konfrontiert. Ich wollte einfach, dass sie es von selbst preisgeben. Doch sie taten es nicht. Bis zu jenem Tag an dem es zu Hause mal wieder Streit gab und ich in meinem Zimmer einen Satz hörte, der meinen gehegten Verdacht bestätigte: „Das ist ja gar nicht mein Sohn.“
Es war eine pure Erleichterung auf der einen und schreckliches Entsetzen auf der anderen Seite. Endlich war es raus was jahrelang nicht ausgesprochen wurde. Endlich konnte ich verstehen warum ich mich von meinem Vater in Aussehen, Charakter und Interessen so unterschied. Endlich konnte ich anfangen dieses Gefühl der Verunsicherung abzulegen.
Das Verdrängen
Nachdem meine Eltern mitbekamen, dass ich alles gehört hatte, nahm mich meine Mutter einen Tag später zur Seite und erläuterte mir die Umstände meiner Entstehung. Mein Vater wurde in seiner Jugend von einem Pferd getreten und war seitdem zeugungsunfähig. Mein Großvater wollte jedoch unbedingt einen Erben was meine Mutter dazu drängte eine künstliche Befruchtung durchführen zu lassen.
Erst konnte ich mit diesem ganzen Thema nichts anfangen. Ich wusste nicht wo ich es emotional einordnen sollte. Auch fehlten mir die fachlichen Informationen und so habe ich lange geglaubt ich sei in einem Reagenzglas gezüchtet worden. Da meine Entstehung auch noch in der Zeit der DDR war, glaubte ich sogar ich wäre aus einem bestimmten Zweck erschaffen worden um anderen Menschen überlegen zu sein und vielleicht sogar als Waffe zu dienen. Meine Vorliebe für Science-Fiction hat sich sicherlich auf diese Fantasiewelt ausgewirkt, aber es gab nie jemanden, weder Ärzte noch meine Eltern, der sich die Zeit nahm um mir alles detailliert zu erklären.
Auch um meine Gefühlswelt kümmerte sich niemand. Ich wurde verhaltensauffällig, schrieb nur noch schlechte Noten und neigte zu starken Aggressionen. Eine Therapie bei einem Jugendpsychologen half mir zumindest zu verstehen, dass etwas nicht stimmte, aber verarbeiten konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts.
Mit dieser Offenbarung ein Spenderkind zu sein, war plötzlich alles nicht mehr wahr. Die Nachmittage bei meinem Großvater, der mir immer Geschichten über den Krieg und die Herkunft seiner Ahnen und unserer Familie erzählte, wirkten nur noch wie lange eingeredete Lügen, die dazu dienten mich glauben zu lassen ich sei Teil von etwas zu dem ich eigentlich nicht gehörte.
Es folgte eine Zeit der Tabuisierung. Meine Mutter war immer der Meinung, dass Samenspenden nicht schlimm seien und eigentlich doch alles ganz natürlich. Mit meinem, nun nur noch sozialen, Vater konnte ich über sowas nie sprechen. Das Thema wurde zunehmend totgeschwiegen und wanderte auch in meinen Gedanken immer weiter weg.
Das Erwachen
Viele Jahre vergingen in denen ich nie groß über diese Geschichte nachdachte. Teilweise weil ich nicht sollte und teilweise weil ich nicht wollte. Dies änderte sich jedoch 2012 als ich meine Frau kennenlernte und im gleichen Jahr eine langweilige militärfachliche Ausbildung bei der Bundeswehr absolvierte. Mit viel Zeit und einer ernster werdenden Beziehung setzt man sich irgendwann mit dem Thema Kinder auseinander und das war der Auslöser, der alles ins Rollen brachte.
Was sage ich meinem Kind, wenn es fragt woher wir kommen? Woher komme ich eigentlich? Wer bin ich überhaupt? Warum habe ich so ein Interesse für bestimmte Sachen, das meine Eltern nie hatten? Woher weiß ich nun ob und wann ich Haarausfall bekommen werde?
All diese Fragen keimten in mir auf und führten letztendlich zu einer ausgeprägten Identitätskrise und einer schweren Depression. Ich wusste, wenn ich meine Probleme überwinden möchte, muss ich herausfinden woher ich komme.
Die Suche
Mein einziger Anhaltspunkt war mein Geburtsort. Den Kontakt zu meinen Eltern hatte ich mittlerweile abgebrochen, sodass ich nur mit den Informationen arbeiten konnte, die mir zu Verfügung standen. Aus einer Erzählung meiner Mutter heraus wusste ich, dass donogene Inseminationen früher in der Hautklinik des Uniklinikums Jena durchgeführt worden. Ich begann also meine Suche dort und verlangte Akteneinsicht.
Bereits der erste Brief kam mir sehr suspekt vor, da sich die ärztliche Leitung selbst zeitgenommen hatte mein Ersuchen abzulehnen, was für eine Aktenauskunft doch recht ungewöhnlich war. Die Begründung: Alle Unterlagen wären vernichtet worden. Aufgrund der seltsamen Umstände und der emotionalen Schwere der Angelegenheit entschied ich mich jedoch am Ball zu bleiben und arbeitete, auch zusammen mit dem Verein Spenderkinder, daran eine Lösung zu erwirken. Nach geraumer Zeit übergab ich die Sache dann aber doch an eine Anwältin für Familienrecht, da ich selbst nicht mehr weiterkam.
Plötzlich fanden sich wieder Unterlagen doch die machten alles noch schlimmer als es vorher schon war. Ich wurde aus einer Spende von drei unterschiedlichen Spendern gezeugt. Ein Vorgehen, dass in der DDR zu Steigerung des Befruchtungserfolges praktiziert wurde. Diese Rechtslage wurde bisher durch kein Gericht geklärt, da es sich bei den Auskunftsersuchen immer nur um einen Spender handelte.
Nach vielen Unterhaltungen meiner Anwältin mit dem Uniklinikum kam man dann zu einer für mich überraschenden Lösung. Die dortige Rechtsabteilung würde zwei der drei Spender kontaktieren, ihnen die Situation erklären und sie um einen DNA Test bitten. Einer meiner potentiellen Väter ging wohl sehr entspannt mit der Sache um. Der andere war jedoch sehr zurückhaltend und hatte große Bedenken.
Nachdem ich meine Probe für den Test abgegeben hatte, dessen Kosten übrigens komplett vom Uniklinikum getragen worden, wurden die nächsten Wochen des Wartens schier unerträglich. Nach drei Wochen kam dann der langerwartete Anruf. Es war der zurückhaltende Spender gewesen, der mein biologischer Vater ist.
Das glückliche Ende
Ich konnte mein Glück kaum fassen. Nachdem so viele Spenderkinder um das Wissen ihrer Herkunft leider erfolglos gekämpft hatten, war ich einer der Wenigen, der kurz vor dem Erfolg stand.
Weitere drei Wochen vergingen bevor ich einen Anruf mit unterdrückter Nummer erhielt. Der Mann stellte sich als Dieter vor und sagte nur, dass er wegen der Sache mit dem Uniklinikum anrufe und sich gern mit mir treffen würde. Das Wort Vater nahm er dabei noch nicht in den Mund.
Ein paar Tage später trafen wir uns dann in Jena und gingen zusammen Essen. Er erzählte mir vier Jahre lang als Spender tätig gewesen zu sein um Paaren mit unerfüllten Kinderwunsch zu helfen, da er mit seiner Ex-Frau nie hätte Kinder haben können und dies anderen ersparen wollte.
Insgesamt war ich sehr überrascht über seine Offenheit, aber ich merkte direkt eine Sympathie zwischen uns. Nach einem sehr langen Gespräch verabschiedeten wir uns und er klopfte mir anerkennend auf die Schulter. Auch wenn ich von vornherein gesagt habe, dass das Treffen nur der Suche nach meinen Wurzeln dient, war ich doch überglücklich von meinem biologischen Vater eine Geste der Anerkennung zu bekommen.
Seinen vollen Namen weiß ich bis heute nicht, aber das ist auch gar nicht nötig. Ich weiß jetzt, dass ich noch einen Halbbruder und zwei Zwillingshalbschwestern habe. Ich weiß jetzt, dass mein technisches Interesse und gutes Verständnis davon vielleicht auch erblich bedingt sein könnten. Und ich weiß jetzt, dass ich mir erst mit Mitte 40 Gedanken über Haarausfall machen muss.
Die Zukunft
Nach diesen ganzen Erlebnissen konnte ich dieses riesige Kapitel endlich schließen. Endlich muss ich keine Angst mehr davor haben meinem Kind irgendwann mal keine Antwort auf seine Frage nach der Herkunft geben zu können.
Zusätzlich zu dem Treffen mit meinem biologischen Vater habe ich noch einen Test bei FamilyFinder machen lassen um herauszufinden wo meine historischen Wurzeln liegen. Irgendwie war ich nicht überrascht genetisch zur Hälfte aus Großbritannien zu stammen, da mich dieser Teil der Welt schon immer stark interessiert hat. Abgesehen davon wollte ich meine DNA aber auch anderen Spenderkindern zugänglich machen, falls sich irgendwann mal weitere Halbgeschwister finden lassen und mein biologischer Vater in der Zwischenzeit verstirbt oder nicht mehr für ein Treffen zur Verfügung steht.